Linda wusste, dass er nicht ganz unrecht hatte, auch wenn er sich insofern irrte, als sie keineswegs absichtlich mit Drohungen arbeitete. Es war vielmehr so, dass es in ihrem Kopf einen Schalter gab, mit dem sich Menschen ausknipsen ließen, und dieser Schalter legte sich von alleine um, wenn ihr etwas nicht gefiel. Das konnte schon passieren, wenn sie morgens das Badezimmer für sich haben wollte und Frederik hereinkam, um sich die Zähne zu putzen. Oder wenn sie aufstehen musste und er weiterschlafen durfte. Oder wenn er sie nicht ansah, während sie mit ihm redete.
Linda konnte sich noch so oft sagen, dass wahrscheinlich nur ein Selbstschutzmechanismus für die inneren Temperaturstürze verantwortlich war – an der Ampel am Ernst-Thälmann-Platz war sie trotzdem überzeugt, dass es ihr am liebsten wäre, Frederik niemals wiederzusehen. Erschrocken fragte sie sich, ob sie seinen Tod wünschte. Diese Vorstellung stoppte den Gedankenfluss abrupt und warf sie zurück in die Realität, also auf den Beifahrersitz des silbernen Mercedes, wo Meilers Gerede noch immer kein Ende gefunden hatte.
Er war bei seiner Familie angelangt, bei der rührseligen Geschichte dreier Söhne, von denen zwei etwas Staatstragendes studiert hatten, während der dritte in den Eingeweiden der Münchner Unterwelt verschwunden war. Auf irgendeine Weise schien Meiler zu glauben, dass die geplanten Windräder nicht nur den verlorenen Sohn, sondern auch die Beziehung zu seiner Ehefrau retten würden, die allen Ernstes Mizzie hieß. Gerade ging er dazu über, seine Ehe zu schildern, was er mit den Worten »Natürlich liebe ich Mizzie, aber …« begann. Von diesem »Komma, aber …« wurde Linda regelrecht übel. Mit »Komma, aber …« pflegten Menschen die schlimmsten Schweinereien einzuleiten, und Meiler gehörte bestimmt zu der Sorte, die ihr ganzes Weltbild auf »Komma, aber« stützte.
Sie atmete tief durch. Es wurde höchste Zeit, sich zusammenzureißen, das innere Jammertal zu verlassen und ein positives Klima herzustellen. Wie Gortz sagte: Du entscheidest selbst, was du fühlst. Frederik war mit Sicherheit kein Mover, aber er liebte sie und würde niemals einen Komma-aber-Satz über sie äußern. Sollte sie ihn tatsächlich eines Tages in die Wüste schicken, würde sie es ein Leben lang bereuen. Pflege deine Gefährten. Erkenne Unterstützung und belohne sie. Selbstkontrolle ist die Währung der Erfolgreichen. Linda rief sich Frederiks freundliches Gesicht vor Augen, dachte an die vollkommene Arglosigkeit seines Wesens und daran, wie bedingungslos er zu ihr hielt. Auch heute hatte er seinen Stolz zurückgestellt und in das Grundstücksgeschäft eingewilligt, allein ihr zuliebe.
Meiler durchquerte die Innenstadt von Plausitz mit überhöhtem Tempo; vermutlich wollte er demonstrieren, dass er sich jede Art von Strafzettel leisten konnte. Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, beschleunigte er den Mercedes auf 140 km/h. Wie ein Marschflugkörper schossen sie auf den ausgedehnten Windpark zu, mitten hinein in das hypnotische Drehen der Rotoren.
Vor ihrem inneren Auge ließ Linda einen Film ablaufen: Frederik, wie er sie hochhob und herumwirbelte, wie er sein Gesicht näherte, um sie zu küssen, ein Blick voller Zuneigung, zugleich ein wenig ängstlich, als hielte er ein niedliches, aber leider auch bissiges Kätzchen im Arm. Sie spürte, wie die Kälte von ihr wich und sie sich entspannte. Frederik war ihr bester Freund, sie wollte nicht ohne ihn leben. Alles andere war Psychose. Langsam begann sie sich darauf zu freuen, in Kürze aus Meilers Auto zu springen und ein flüchtiges »Bis dann« ins Wageninnere zu rufen, bevor sie die Beifahrertür zuknallen und ins Haus laufen würde, um Frederik zu umarmen. Sie wollte sich entschuldigen und ihm für seine Unterstützung danken. Scheiß auf das Streichen der Bodendielen, scheiß auf abzuschmirgelnde Fenster. Vielleicht würde es ihnen doch noch gelingen, den Geschäftsabschluss gemeinsam zu feiern. Linda war stolz darauf, dass es ihr gelang, mithilfe von Autosuggestion so elegant über den eigenen Schatten zu springen. Es bestätigte eine zentrale These von Manfred Gortz: Der eigene Schatten verschloss das Tor zum richtigen Weg.
Weil Linda lächelte, hieb Meiler fröhlich beide Hände aufs Lenkrad. Offensichtlich glaubte er, mit seinen Anekdoten für ihre sonnige Laune verantwortlich zu sein.
»Schon lustig, nicht wahr«, rief er. »Wie das Leben manchmal spielt.«
Vom Plausitzer Windpark aus waren es noch zwanzig Minuten bis Unterleuten, bei Meilers Tempo vielleicht nur fünfzehn. So lange würde sie ihn noch ertragen. Gerade war sie dabei, sich tiefer in die Polster sinken zu lassen, als Meiler plötzlich vom Gas ging. In einigen hundert Metern Entfernung, genau an der Stelle, wo Lindas Lieblingskurve begann, standen mehrere Autos am Straßenrand, wobei sie die komplette rechte Fahrbahn versperrten.
»Scheiße«, sagte Meiler.
»Keine Sorge«, erwiderte Linda träge. »Das sind nur Ornithologen. Wenn hier irgendwo Kampfläufer gesichtet werden, kommt es zu Massenaufläufen.«
»Mit Blaulicht?«
Erst jetzt bemerkte sie das Kreisen von gelben und blauen Lichtern, die mit der Nachmittagssonne konkurrierten. Meilers Abbremsen auf 30 km/h ließ sie in den Sicherheitsgurt kippen. Langsam näherten sie sich der Szenerie, zu der Abschleppwagen, Krankenwagen, zwei Polizeiautos und der Feuerwehr-Barkas aus Beutel gehörten. Ein Unfall, dachte Linda. Da hat einer die Kurve geschnitten, der es nicht konnte.
»Sieht nicht gut aus«, sagte Meiler. »Aber ich glaube, wir kommen dran vorbei.«
Ein Polizist schwenkte den Arm, um sie zu zügigem Weiterfahren zu veranlassen. Linda war dabei, sich in zwei Hälften zu spalten. Der eine Teil wusste längst, was passiert war. Der andere betrachtete das Heck des Fronteras, der kopfüber zwischen den Bäumen hing, und dachte: »Der sieht ja genau aus wie unserer.«
Bald würde sie den Frontera brauchen, um Bergamotte aus Oldenburg abzuholen. Sie hatten den Wagen extra ausgesucht, weil er in der Lage war, einen Pferdeanhänger zu ziehen.
Dann schlugen die beiden Hälften mit einem Knall zusammen, der ihr Leben sprengte.
»Halten Sie an«, brüllte Linda und packte Meiler am Arm. »Halten Sie verdammt noch mal an!«
58 Seidel
»Was machst du da?«
»Wonach sieht es denn aus?«
»Schatzsuche? Pflanzloch für einen Mammutbau? Oder buddelst du dein eigenes Grab?«
Um ihr den Spaß zu lassen, senkte Arne den Kopf und grub verbissen weiter, so dass sie sehen konnte, wie ihm der Schweiß über die Stirn lief. In all den Jahren ihrer Nachbarschaft war sie kein einziges Mal spontan zu ihm herübergekommen, obwohl er sich immer gern vorgestellt hatte, wie sie hier in den Abendstunden mit einem Glas Wein unter den Bäumen zusammensitzen könnten. Dass sie an diesem Abend plötzlich im Garten stand, genauer gesagt, einen guten Meter über ihm am Rand der Grube, an deren Grund er sich mit Spaten und Spitzhacke abmühte, konnte nur eins bedeuten: Sie war gekommen, um sich über ihn lustig zu machen.
»Oder dachtest du an eine eigene Ölquelle, um Unterleuten von den steigenden Energiepreisen unabhängig zu machen?«
Ihr spöttischer Tonfall gefiel ihm, auch wenn es seine persönliche Niederlage war, die sie zur Höchstform auflaufen ließ. Als kleines Mädchen hatte sie den patzigen Sound ihrer Heimat perfekt beherrscht. Mit sieben Jahren war sie in der Lage gewesen, auf die Frage »Wie war’s in der Schule?« mit »Was geht dich das an?« zu antworten. Arne und sie hatten sich gern mit »Was willst du denn hier?« oder »Hier gibt’s nichts umsonst« begrüßt, bevor sie sich gegenseitig in die Seite boxten und gemeinsam in den Kälberstall gingen. Er machte Wolfi dafür verantwortlich, dass Kathrin so brav geworden war. Wolfi kam aus dem Westen und besaß folglich keinen Humor. Vor Jahren war Arne einmal in Niedersachsen bei einer Diskussionsveranstaltung für Kommunalpolitiker aus Ost und West gewesen. Mit Erstaunen hatte er verfolgt, dass die Menschen zueinander »Guten Tag« und »Wie geht’s den Kindern?« sagten. Es wurde weder geraucht noch getrunken, und Arne hatte selten einen langweiligeren Abend erlebt.