So wie Kathrin am Rand der Grube stand, die Hände in den Hüften, ein Bein vorgestellt und ein schadenfrohes Lächeln im Gesicht, gefiel sie ihm am besten. Jetzt blickte sie demonstrativ zu Arnes rückwärtigem Zaun. Der Waldweg hinter der Grundstücksgrenze war von einer sauber gefällten Kiefer versperrt.
»War das Kron?«, fragte sie.
»Solange der liebe Gott keine Motorsäge besitzt.«
»Und da scheißt du jetzt rein?« Mit dem Kinn deutete sie auf die zur Hälfte ausgehobene Grube.
»Ich kann auch jedes Mal zu euch rüberkommen, wenn ich aufs Klo muss.«
»Kommt da noch ein Donnerbalken und eine Tür mit Herzchen drauf?«
»Da kommt ein Schlauch rein, der meine randvolle Sammelgrube entlastet.«
»Oh, wie unangenehm. Wo lief’s denn raus? Aus der Dusche? Oder dem Klo?«
Natürlich hatte es die Waschmaschine sein müssen. Die Dusche wäre vergleichsweise harmlos gewesen; immerhin stand man drin und konnte abdrehen, wenn sich ein Rückstau zeigte. Schlimmstenfalls wäre Arne mit Schaum auf dem Kopf und Seife in den Augen durchs Haus gelaufen, um eine Saugglocke zu suchen, bis ihm klar geworden wäre, dass er es mit einer Verstopfung der besonderen Art zu tun hatte.
Aber er hatte am Morgen die Waschmaschine angestellt und war zum Einkaufen nach Plausitz gefahren. Als er nach Hause kam, trat er vor dem Kühlschrank in eine riesige Pfütze. Das Wasser war aus der Waschmaschine ins Bad und aus dem Bad in die Küche gelaufen. Arne hatte den frühen Nachmittag mit Wischen und den späten Nachmittag mit Nachdenken verbracht.
»Und wenn deine neue Ersatzgrube auch voll ist?«, fragte Kathrin.
Arne unterbrach das Buddeln, rammte den Spaten in die Erde und stützte beide Hände auf den Stiel.
»Es ist lange her, dass du Lust hattest, dich mit mir zu unterhalten, Kathrin.«
»Sag bloß, der Scheißewagen ist nicht zu dir durchgekommen.«
»Der Scheißewagen kommt nicht durch, weil, wie du siehst, eine Kiefer den Zufahrtsweg versperrt.«
»Der Zufahrtsweg ist ein Waldweg und gehört zum Forstbesitz meines Vaters.«
»Das ist mir bekannt.«
Kathrins Grinsen verriet, dass sich das Gespräch dem Moment näherte, dessentwegen sie herübergekommen war.
»Wer könnte meinen Vater wohl auf die Idee gebracht haben, genau dahinten einen Baum zu fällen?«
»Das könnte mein Auto gewesen sein, das neulich zufällig vorn an der Ecke stand, als der Scheißewagen zu euch wollte.«
»Weil dir zufällig der Lärm von Wolfis Rasenmäher auf die Nerven ging.«
»Ganz zufällig. Genau«.
Jetzt war es so weit. Kathrin stützte die Hände in die Hüften, während sie triumphierend auf Arne in seinem Erdloch herabblickte.
»Okay, Kathrin.« Er musste selbst lächeln, weil es so offensichtlich war, wie sehr sie die Schadenfreude genoss. »Sag deinen Satz.«
»Bist du sicher?«
»Ich will ihn hören.«
»Da gibt es dieses alte Sprichwort. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Einfach irre, wie gut das gerade auf dich passt, oder?«
Er gönnte ihr den Triumph. Zum einen hatte sie recht; zum anderen war sie reizend, wenn sie lachte. Aus ihren Augen blickte das kleine Mädchen heraus, das mit der Zeit im Körper einer erwachsenen Frau verschwunden war. Während Arne sie ansah, spürte er, dass auch in ihm eine jüngere Version seiner selbst lebte. Wahrscheinlich spaltete sich jeder Mensch irgendwann in zwei Hälften, dachte er. Ein Teil blieb an einer bestimmten Stelle stehen und schaute verwundert seinem alternden Zwilling hinterher, der beherzt in die Zukunft marschierte. Arnes jüngeres Ich saß auf dem Rand der Badewanne, schaute Barbara an, die vor dem Spiegel stand, um irgendetwas in ihrem Gesicht zu untersuchen, und dachte, dass er der glücklichste Mensch auf Erden sei. Dieser Arne hatte keine Falten, keine Rückenschmerzen und keine Ahnung davon, dass das Schicksal mühelos in der Lage war, ihm alles wegzunehmen.
»Und jetzt?«, fragte Kathrin.
»Die Kiefer kann ich nicht beseitigen lassen.«
»Weil das Gelände meinem Vater gehört.«
»Und einen anderen Zufahrtsweg gibt es nicht.«
»Ich meine«, Kathrin vollführte eine beschreibende Armbewegung, »dieses Katzenklo hier ist doch bestenfalls eine Notlösung.«
»Für eine Woche«, sagte Arne. »Wenn ich Wasser spare.«
Er hatte überlegt, was es ihn kosten würde, die Sammelgrube in den Vorgarten zu verlegen, wo sie von der Straße erreichbar wäre. Er kam auf 20000 Euro und einen durch Radlader und Bagger zerstörten Garten. Arne wollte seinen Garten nicht zerstören, mal abgesehen davon, dass er das Geld nicht hatte.
»Hat Kron dich hergeschickt?«, fragte er. »Um rauszufinden, was ich vorhabe?«
Statt einer Antwort wandte sich Kathrin zum Gehen.
»Warte!«
Er ließ den Spaten fallen und stützte die Hände auf den Rand der Grube. Eigentlich hatte er mit einem eleganten Hocksprung hinausflanken wollen; es wurde eher eine Bauchlandung mit anschließendem Krabbeln daraus.
»Bleib stehen, Kathrin. Bitte.«
Sie drehte sich um und musste lächeln angesichts seiner erdverschmierten Vorderseite.
»Komm.« Arne schaute sich um, fand nichts außer einem Stapel Eimer, nahm zwei davon, drehte sie um und vollführte eine einladende Geste.
»Setz dich.«
Weil sie nicht reagierte, wiederholte er die Armbewegung.
»Komm. Ich erzähle dir, was ich tun werde. Das ist wichtig, auch für dich.«
Zögernd kam sie seiner Aufforderung nach und ließ sich auf dem niedrigen Eimer nieder. So saßen sie einander gegenüber, am Rand einer halb ausgehobenen Grube, die Ellenbogen unbequem auf die zu hoch aufragenden Knie gestützt.
»Ich kapituliere«, sagte er.
Während Kathrin ihn zweifelnd ansah, versuchte Arne zu erklären, was er damit meinte. Seit er mit Gombrowskis Hilfe Bürgermeister geworden war, hatte er Gombrowski und das Dorf stets als untrennbare Einheit betrachtet. Gombrowskis Wille war des Dorfes Wille – diese Gleichung hatte Arne niemals in Frage gestellt. Er musste Arbeitsplätze sichern und ein Minimum an Gewerbesteuer einnehmen, um die bescheidenen Bedürfnisse der Gemeinde zu decken. Dass sich diese Ziele mit Gombrowskis Interessen deckten, war kein Problem gewesen, sondern Grundlage ihrer Zusammenarbeit.
Heute Nachmittag aber hatte er angesichts seiner übergelaufenen Waschmaschine zum ersten Mal darüber nachgedacht, wo das Dorf ohne Gombrowski stünde. Er stellte fest, dass er es nicht wusste. Was, wenn Gombrowski nach der Wende mit der LPG-Übernahme gescheitert wäre, wenn er das Dorf verlassen hätte – wer konnte wissen, ob es Unterleuten heute besser oder schlechter ginge? Was hieß schon besser? Für wen? Solange die Zukunft darauf bestand, sich in unvorhersehbare Richtungen zu entwickeln, blieb es im Grunde völlig gleichgültig, was ein kleiner Bürgermeister wie Arne für richtig hielt.
Weil Kathrin begann, unruhig auf ihrem improvisierten Sitz hin und her zu rutschen, sprach Arne schneller.
Er habe jetzt begriffen, warum er in all den Jahren immer getan hatte, was Gombrowski wollte. Er hatte eine Instanz gebraucht, die hartleibig genug war, um sich der Willkür der Zukunft entgegenzustellen. Gombrowski hielt seine eigenen Entscheidungen immer für richtig, was daran lag, dass er seinen persönlichen Willen mit dem Gesetz verwechselte. Auf diese Weise blieb er handlungsfähig, und ein Bürgermeister, der mit ihm zusammenarbeitete, war es auch.
»Arne«, sagte Kathrin. »Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«
»Ich werde dafür sorgen, dass dein Vater den Windpark bekommt«, sagte Arne. »Danach trete ich zurück.«
An Kathrins erstaunter Miene konnte er ablesen, dass dieses Ergebnis nicht nur ihm merkwürdig erschien. Trotzdem war es folgerichtig, und es war der wahrscheinlich letzte Wendepunkt in seinem Leben. Kron hatte einfach alles richtig gemacht. Obwohl er ein Eignungsgebiet besaß, hatte er mit keiner Silbe angedeutet, dass er sein Land an die Vento Direct verpachten wollte. Während sich das Dorf im Windmühlenstreit verausgabte, war er durch die Hintertür gekommen, um Arne mit einem Trick zu erpressen, den sich Arne zu allem Überfluss selbst ausgedacht hatte. Natürlich hätte er jetzt anfangen können, Kron zu bekämpfen. Aber es gab keinen Grund dafür. Das Dorf erhielt die Gewerbesteuer, ganz egal, auf wessen Grundstück die Windkraftanlagen standen. Und Gombrowski hatte sowieso verloren. Nach allem, was man hörte, hatte er sich von der kleinen Linda Franzen über den Tisch ziehen lassen. Vielleicht tat es Unterleuten ganz gut, Gombrowski einmal scheitern zu sehen. Vielleicht würde das den Frieden wiederherstellen. Arne konnte es egal sein. Der Verrat an seinem alten Freund und Gönner war seine letzte Amtshandlung.