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»Ich weiß nicht, ob Papa die Windmühlen überhaupt haben will.«

»Er wird schon wollen.«

»Wie deichselst du das?«

»Die Gemeinde entscheidet durch Erlass eines Bebauungsplans, auf welchem der Eignungsgebiete die Kraftwerke gebaut werden dürfen.«

»Und du bist die Gemeinde.«

»Ich bin der Vorsitzende des Gemeinderats.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. In den letzten Jahren hatte Arne immer wieder bewiesen, dass er in der Lage war, Gemeinderatsbeschlüsse nach seinen Wünschen herbeizuführen.

»Erzählst du mir das, damit ich Kron die frohe Botschaft überbringe?«, fragte Kathrin.

»Ich erzähle es dir, weil es dich betrifft«, sagte Arne. »Wenn Kron Windräder baut, dann für dich und Krönchen. Ihr werdet bald reich sein. Du kannst weniger arbeiten. Oder etwas anderes machen.«

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas anderes machen will?«

»Der Posten des Bürgermeisters wird bald frei. Magst du nicht kandidieren?«

»Jetzt drehst du völlig durch, Arne.«

»Wieso? Unterleuten wurde lang genug von alten Männern regiert. Die Zeit der alten Männer ist vorbei.«

Kathrin zeigte ihm einen Vogel, aber ihr Lächeln wirkte eher nachdenklich als spöttisch. Eine Weile schwiegen sie. Arne hob den Kopf und ließ sich von der schräg stehenden Sonne blenden. Alles fühlte sich richtig an. Er wollte keine Schlägereien, keine verschwundenen Kinder und flüchtenden Ehefrauen mehr. Er wollte nur noch Ruhe für sich und sein armes, verletztes Unterleuten.

»Ich sollte mich wohl entschuldigen.«

»Lass es, Arne.«

»Wegen Wolfi und dem Rasenmäher. Wahrscheinlich hätte ich einfach rüberkommen und mit ihm reden sollen.«

»Das hätte überhaupt nichts gebracht.«

Zum ersten Mal kam er auf den Gedanken, dass sie es vielleicht selbst ganz gut fand, dass der tägliche stundenlange Krach ein Ende hatte. Wieder senkte sich Schweigen über die Eimer-Sitzgruppe am Rand der Grube, dieses Mal mit einem Unterton von Komplizenschaft.

»Was hast du eigentlich gegen mich?«, fragte Arne.

Die Frage war unüberlegt herausgekommen und klang so deplatziert, dass Arne fast erwartete, Kathrin werde einfach aufstehen und gehen. Stattdessen schaute sie ihn an und tat gar nicht erst so, als wüsste sie nicht, wovon er sprach.

»Irgendwann wurde ich fünfzehn«, sagte sie nach einer Pause. »Da war es unmöglich, mit einem älteren Mann befreundet zu sein.«

Arne schluckte. Statt ein halbes Leben lang beleidigt zu sein, hätte er selbst darauf kommen können, dass seine väterliche Freundschaft für eine Heranwachsende eines Tages zur Belastung werden musste. Er zwang sich, vor dem zweiten Teil der Frage nicht zu kneifen.

»Und später?«

»Du meinst – jetzt?«

Arne nickte.

»Jetzt bist du ein wandelnder Vorwurf hinterm Gartenzaun.«

Arne biss sich auf die Lippe.

»Du fürchtest dich vor meiner Einsamkeit.«

Kathrin wollte protestieren und entschied sich dann doch dagegen. Nach kurzem Überlegen begann sie zu nicken.

»Möglicherweise meine ich das.«

Arne lächelte und wartete, bis sie sein Lächeln erwiderte. Dann stand er auf.

»Komm mal her.«

Als sich Kathrin erhoben hatte, trat er auf sie zu und schloss sie in die Arme. Sie ließ es geschehen. Es war schön, sie zu halten. Er spürte ihr Lächeln an seiner Schulter. Die Zeit für eine freundschaftliche Umarmung lief ab; sie drückten sich noch einmal und lösten sich voneinander.

»Kommst du morgen Abend auf ein Glas Wein vorbei?«

»Muss ich dann wieder auf einem Eimer sitzen?«

»Du musst in einen Eimer pinkeln, wenn ich bis dahin nicht fertig bin mit Buddeln.«

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten.«

»Tschüs, Windkönigin.«

Sie hoben zum Abschied die Hände, und Arne sah zu, wie Kathrin die Wiese überquerte, eine schadhafte Stelle im Gartenzaun suchte und sich hindurchzwängte und schließlich drüben auf ihrem eigenen Grundstück verschwand. Dann sprang er zurück in sein halb fertiges Loch, packte den Spaten und grub. Die Erde schleuderte er hoch über Kopf. Gelegentlich lachte er vor sich hin, als befände er sich mit einem Freund in amüsantem Gespräch. Stieß den Spaten in den Boden, lachte.

59 Fließ

Der Alte stand mitten auf der Lichtung, fünfzig Schritte entfernt vom Eingang seines Hauses, aus dessen Kamin trotz der sommerlichen Temperaturen dünner Rauch stieg. Seinem Blick stand der Wald im Weg; er schaute in eine Ferne, die mit räumlicher Distanz nichts zu tun hatte.

Gerhard war durchs Dorf gelaufen, ohne genau zu wissen, wohin er wollte. Jule brauchte ein wenig Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Auch für sie war es nicht leicht zu begreifen, dass der Kampf ein plötzliches Ende gefunden hatte. Das Tier von nebenan existierte nicht mehr, es hatte sich in einen Nachbarn verwandelt, der ab heute auf Wohnungssuche war. Nie wieder würde jemand wagen, das Leben von Gerhards Familie zu stören. In ein paar Stunden wollte Gerhard nach Hause zurückkehren, um Jule in den Arm zu nehmen und ihr alles zu erklären. Er musste sich bei ihr entschuldigen. Weil er nicht früher eingesehen hatte, dass gegen brutale Typen nur brutale Methoden wirkten.

Sein Spaziergang durchs Dorf hatte am Märkischen Landmann vorbeigeführt, am Anwesen der Gombrowskis und an Hilde Kesslers leer stehendem Haus. Gerhard hatte den Stichweg passiert, der zur Villa von Linda Franzen führte, und die Waldstraße rechts liegen lassen, an deren Ende Kathrin Kron und Arne Seidel wohnten. Er war weitergelaufen, bis der Asphalt endete und in den Plattenweg überging, zu dessen Seiten die Kiefern immer dichter zusammenrückten. Dass er keinen gewöhnlichen Waldspaziergang unternahm, sondern ein Ziel besaß, erkannte Gerhard erst, als er in eine Schneise einbog, die als breiter Sandstreifen zwischen den Bäumen hindurchführte und schließlich in die Lichtung mündete, in deren Mitte Krons Jagdhaus stand.

Der Alte hatte ihn noch immer nicht bemerkt. Instinktiv zog sich Gerhard ein Stück zwischen die Stämme zurück, getrieben vom Gefühl, einen intimen Moment zu stören. Auf einmal wusste er, was er hier wollte. Er war keineswegs zufällig an diesen Ort gelangt. Wie der Alte so einsam auf der Lichtung stand, erinnerte er ihn plötzlich an seinen verstorbenen Vater, so deutlich, dass er regelrecht erschrak. Zwar hatte Gerhards rundlicher Vater äußerlich wenig mit dem drahtigen Kron gemein gehabt. Aber in der Verlorenheit des Alten im Wald erkannte Gerhard ihn plötzlich wieder. Genau wie sein Vater war Kron ein Mann, den man ein Leben lang herumgestoßen hatte. Der nach jedem Schlag tapfer wieder aufstand, nur um wenig später von Neuem gedemütigt zu werden. Nicht, weil er Fehler begangen hatte, sondern gerade weil er versuchte, alles richtig zu machen.

Es gab eine Episode aus Gerhards Kindheit, die sich mit Widerhaken in seinem Gedächtnis verfangen hatte und die ihm jetzt klar wie ein Film vor Augen stand. Als er gerade zehn geworden war, hatte ihn sein Vater mit feierlicher Geste bei der Hand genommen und ihm erklärt, dass ein angehender Mann gutes Schuhwerk brauche, um mit festen Schritten durchs Leben zu gehen. Der Vater hatte gerade eine Gratifikation erhalten und fuhr mit Gerhard in ein Geschäft, in dem schon die Luft teuer roch. Schnell fanden sie ein Paar, das Gerhards Herz höher schlagen ließ: braune Halbschuhe im Derby-Schnitt, jenen nicht unähnlich, die der Vater zu seinen Geschäftsanzügen trug. Gerhard nannte dem Vater seine Schuhgröße, der Vater gab die Zahl an den Verkäufer weiter, und der elegante Herr im Anzug verschwand im Lager, um gleich darauf mit einem offenen Karton wieder zu erscheinen, aus dem in üppiger Menge das Seidenpapier quoll.