Mühelos schlüpfte Gerhard in den rechten Schuh. Danach war es unmöglich, den Blick davon abzuwenden. Der Schuh adelte den Stoff der etwas zu dünnen und etwas zu blauen Hose, er adelte die ganze Person. Gerhard spazierte vor dem Spiegel auf und ab, den linken Fuß in der ausgetretenen Sandale, den rechten im eleganten Derby-Schuh, und sah die Beine von zwei völlig verschiedenen Menschen, die grausamerweise an ein und demselben Körper hingen. Gerhards Vater lobte das Modell in den höchsten Tönen, der Verkäufer lächelte zustimmend und reichte das linke Exemplar. Gerhard zog es an, band die Schleife und fühlte sich unbehaglich. Der linke Schuh schien anders geschnitten als der rechte. Während das Leder an den Seiten des rechten Fußes glatt anlag, beulte es sich beim linken ein wenig, so dass Gerhard seine Finger hineinschieben konnte.
»Phantastisch!«, rief der Vater, als Gerhard mit beiden Schuhen vor den Spiegel trat, »die Dinger machen einen Mann aus dir!«
»Wie passen sie denn?«, fragte der Verkäufer, und Gerhard antwortete, dass ihm der rechte angenehmer sei als der linke. In seinem Alter sei es nicht ungewöhnlich, dass die Füße ein wenig unterschiedlich geformt seien, antwortete der Verkäufer.
»Das läuft sich ein«, rief der Vater, »nicht wahr?«
Als der Verkäufer sie für einen Moment verließ, um die Frage eines anderen Kunden zu beantworten, zeigte Gerhard dem Vater, wie er die Zeigefinger seitlich in den linken Schuh schieben konnte und wie das beim rechten nicht der Fall war. Die begeisterte Miene des Vaters erlosch. Gerhard wartete darauf, dass der Vater den Verkäufer herbeiriefe. Er sollte ihm mitteilen, dass mit den Schuhen etwas nicht in Ordnung war. Der Verkäufer würde ein weiteres Mal im Lager verschwinden und ein anderes Paar derselben Größe bringen, oder, wenn sich herausstellen sollte, dass auch dieses nicht passte, ein anderes Paar von einem ähnlichen Modell.
Aber der Vater tat nichts dergleichen. Bekümmert, nein, geradezu beschämt betrachtete er Gerhards linken Fuß, der den Schuh nicht richtig ausfüllen wollte, und schwieg. Gerhard saß auf dem kleinen Schemel, der Vater stand neben ihm, die Hände auf die Knie gestützt, den Rücken gebeugt. So verstrichen die Sekunden.
Als der Verkäufer zurückkehrte und fragte, ob eine Entscheidung gefallen sei, richtete sich der Vater auf und verkündete fröhlich, es handele sich um genau das, was sie gesucht hätten. Auf dem Weg zur Kasse klopfte er Gerhard aufmunternd auf den Rücken und wiederholte, dass sich das Paar schon einlaufen werde, aber seine Fröhlichkeit klang künstlich, die festliche Stimmung war dahin.
In der Straßenbahn hielt Gerhard den Karton auf den Knien, strich mit den Fingern über die lackierte Oberfläche und das reliefartige Logo des Herstellers und schaffte es nicht, sich zu freuen. Er öffnete den Deckel, das Seidenpapier knisterte, die Schuhe lagen nebeneinander wie zwei Schmuckstücke in ihrer Schatulle. Auf den Ledersohlen entdeckte er die eingeprägten Ziffern, welche die Schuhgröße markierten. 36 stand auf dem rechten, auf dem linken eine 37. Er zupfte den Vater am Ärmel und zeigte ihm die unterschiedlichen Zahlen. Der Vater wurde blass. Für einen Augenblick fürchtete Gerhard, der erwachsene Mann könnte mitten in der Straßenbahn zu weinen beginnen. Stattdessen ballte er die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortraten, und sagte einen Satz, der in der Lage war, die Welt untergehen zu lassen: »Erzähl’s nicht deiner Mutter.«
Für ein Kind ist es unmöglich, die Demütigung des eigenen Vaters zu ertragen. Bis heute spürte Gerhard Übelkeit aufsteigen, wenn er an die Szene zurückdachte. Während der gesamten Rückfahrt hatte der Vater ins Leere gestarrt, so wie Kron, der noch immer allein auf der Lichtung stand, offensichtlich ganz in Gedanken versunken, den Blick in ein Nichts aus Sand, Holz und Kiefernnadeln gerichtet. Ein Gedemütigter, der alles Empfinden für Demütigung verloren hatte. Der die schiere Zumutung des Lebens nicht ertrug und dabei hart geworden war. Der tief in seinem Herzen trotzdem noch immer die Hoffnung nährte, am Ende allen Kampfes stünde die Chance auf einen gerechten Sieg. Es war die Existenz dieser heimlichen Hoffnung, die weiteren Demütigungen Tür und Tor öffnete.
Gerhard wusste jetzt, was er vorhin in Schallers Hof getan hatte und warum. Natürlich hatte er Frau und Kind verteidigt, und kein Mann im Universum hätte an seiner Stelle anders gehandelt. Dennoch stellte das nur die halbe Wahrheit dar. Hinter dem ersten Impuls stand ein zweiter: Er hatte Kron gerächt, diesen vom Leben gezeichneten Greis, dem das Gombrowski-Syndikat seit Jahrzehnten übel mitspielte und dessen Anblick einem das Herz im Leib umdrehen konnte. Man hatte Krons Freund getötet und ihn selbst zum Krüppel geschlagen, und der Mann, der das zu verantworten hatte, lief seit zwanzig Jahren frei herum, nur weil das Dorf sich weigerte, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Bis Gerhard ihn seiner Strafe zuführte. Er hatte einen Akt der Vergeltung begangen, einen Schlag nicht nur gegen Schaller, sondern gegen Ungerechtigkeit und Demütigung an sich. Deshalb war Gerhard instinktiv hierhergekommen: Um Kron auf der Lichtung vorzufinden und ihm die Nachricht von Schallers Buße zu überbringen. Er wollte einen Satz hören, den er sich bis zuletzt von seinem Vater gewünscht hätte und den dieser nun, da er tot war, nicht mehr sagen konnte: »Danke, mein Junge, jetzt schäme ich mich nicht mehr.«
Gerhard schob die Hände in die Taschen und schlenderte auf die Lichtung. Jeder Schritt scheuchte Insekten aus dem Gras, die summend seine Beine umkreisten. Kron, der seitlich zu ihm stand, wandte erst den Kopf, als Gerhard bis auf zwei Meter herangekommen war. Gerhard sah, wie sich die Mundwinkel des Alten hoben, und konnte gar nicht anders, als mit einem strahlenden Lächeln zu antworten. Er trat noch einen Schritt näher, streckte die Hand aus und spürte, wie sein Lächeln sich verstärkte.
»Na«, sagte Kron und betrachtete Gerhards Hand wie einen seltenen Pilz, von dem er nicht genau wusste, ob er giftig war. Schließlich entschied er sich gegen das Anfassen. Nach einem kleinen Schweigen fügte er hinzu:
»Eben denke ich darüber nach, ob es die Sache wert ist.«
Gerhard steckte seine unbenutzte Hand zurück in die Hosentasche. Beim besten Willen begriff er nicht, wovon Kron sprach.
»Was was wert ist?«, fragte er.
Kron vollführte eine Armbewegung, als stünden sie auf einem Panoramaturm, von dem aus sich der gesamte Landkreis überblicken ließ.
»Der ganze Wahnsinn«, sagte er. »Wegen ein paar blöden Windrädern.«
Der Dorffunk, dachte Gerhard. Es war immer wieder verblüffend, wie schlecht er funktionierte. Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war. Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen. Konnte es wirklich sein, dass Kron nichts von Gombrowskis Niederlage wusste?
»Haben Sie es noch nicht gehört, Herr Kron? Es wird keine Windräder geben.«
Zum ersten Mal sah ihn der Alte richtig an. Seine Augen waren gerötet, als hätte er getrunken oder geweint. Gerhard schien es, als schwankte er leicht. Der Blick war alles andere als freundlich, aber doch eine Aufforderung zum Weitersprechen.
»Gombrowski hat aufgegeben«, sagte Gerhard. »Linda Franzen hat ihn fallen lassen.«
»Wer?«
»Linda Franzen. Die mit den Pferden.«
Auf Krons Gesicht erschien ein seltsames Lächeln. Er sah nicht aus, als verstünde er, was Gerhard ihm zu erklären versuchte.