»Woran ich natürlich nicht ganz unschuldig bin«, sagte Gerhard. »Frau Franzen will doch diese Koppelzäune bauen.«
»Na und?«
»Ich habe ihr versprochen, die Einwände des Vogelschutzbundes gegen das Vorhaben zurückzuziehen. Dafür hat sie zugesagt, ihr Land auf der Schiefen Kappe nicht an Gombrowski zu verkaufen.« Gerhard nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme. »Gombrowski ist mit seinen Plänen am Ende.«
Spätestens an dieser Stelle wäre es Zeit für ein gegenseitiges Schulterklopfen gewesen, für ein triumphierendes Lachen oder wenigstens das Zunicken zweier Verschwörer. Aber Kron schien nicht richtig zuzuhören. Er hielt seinen rötlichen Blick auf Gerhard gerichtet und schwankte.
»Ich denke, dass wir stolz auf uns sein können«, versuchte Gerhard es weiter. »Sie hatten der Raffgier von Gombrowski bestimmt die größten Opfer zu bringen. Aber auch meine Frau und ich mussten einiges aushalten. Wir haben uns alle tapfer geschlagen. Heute kann ich mit Freude sagen: nicht umsonst.«
Plötzlich begann Kron zu lachen. Er schlug sich sogar mit der Hand auf sein gesundes Bein. Während Gerhard ihm zusah, arbeitete sein Verstand an einer Formulierung, mit der er zu Schaller überleiten konnte. Etwas nach dem Motto »Ihr persönliches Problem mit Bodo Schaller habe ich bei der Gelegenheit auch gleich geklärt«, nur eben eleganter.
Er kam nicht mehr dazu, seinen Text fertig zu entwickeln, weil Kron selbst das Wort ergriff. Auch wenn das, was er sagte, ein wenig rätselhaft klang.
»Was wollen Sie eigentlich?«
Einen Moment überlegte Gerhard, ob Kron vielleicht unter Altersdemenz litt. Ob er sich vielleicht gar nicht daran erinnern konnte, wer Gerhard war.
»Herr Kron«, sagte er. »Ich bin Gerhard Fließ vom Vogelschutzbund. Wir haben von Anfang an gemeinsam gegen die Windkraftanlagen gekämpft.«
Kron vollführte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich habe nicht gegen Windkraftanlagen gekämpft«, sagte er. »Sondern gegen Gombrowski.«
Mit langem Arm zeigte er in die Richtung, in die er so lange gestarrt hatte, und wo es, genau wie überall sonst, nichts als Kiefern zu sehen gab.
»Dahinten«, sagte Kron, »einen halben Kilometer von hier werden sie stehen. Zehn Stück. Am Waldrand. Auf meinem Grund und Boden. Mit deinen Koppelzäunen hat das übrigens nichts zu tun. Sondern damit, dass dem Bürgermeister das Klo überläuft.«
Gerhard konnte nicht recht folgen. Zum Teil lag es daran, dass ihn ein Wagen ablenkte, der sich im Schritttempo durch die Kiefernschneise auf die Lichtung schob. Fast ohne Geräusch, mit ausgeschaltetem Blaulicht. Der Motor erstarb, zwei junge Männer in Uniformen stiegen aus. Der Wald warf das Zuschlagen der Türen als kurzes Echo zurück.
»Was wollen die denn hier?«, fragte Gerhard. »Haben Sie Ärger, Herr Kron?«
»Sind Sie Herr Fließ?«, rief einer der Uniformierten.
Als Gerhard klar wurde, dass die jungen Männer seinetwegen gekommen waren, fiel ihm das Blut in die Füße. Konnte es sein, dass sich Schaller erhoben hatte und durch den Graben zum Haus der Familie Fließ gewankt war, um seinerseits Rache zu nehmen? Das hatte er nicht bedacht. Er war sicher gewesen, Schaller neutralisiert zu haben. Nun kamen die Polizisten, um ihm eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Gerhard rannte ihnen entgegen.
»Meine Frau!«, rief er. »Was ist passiert?«
»Herr Fließ«, sagte der Uniformierte. »Wir müssen Sie bitten, uns zu begleiten.«
»Sagen Sie es mir! Sofort! Was ist mit meiner Frau, meiner Tochter?«
»Beruhigen Sie sich, Herr Fließ. Mit Ihrer Frau und Ihrer Tochter hat das hier gar nichts zu tun.«
Gerhard hielt inne, ihm fiel auf, dass er den Arm des Polizisten umklammert hielt.
»Wirklich?« Fast hätte er zu weinen begonnen. »Ich danke Ihnen!«
»Ich muss Sie jetzt über Ihre Rechte belehren. Sie haben das Recht zu schweigen, und sobald wir im Präsidium sind, können Sie mit einem Anwalt telefonieren.«
Gerhard starrte den jungen Polizisten an. Das Gefühl, nicht zu verstehen, was Menschen ihm mitteilen wollten, wurde langsam zu einem Dauerzustand.
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte er schließlich.
»Sie stehen unter Verdacht, Bodo Schaller schwer verletzt zu haben.«
»Ach das«, sagte Gerhard. »Nur eine Dorfangelegenheit. So etwas regeln wir unter uns.«
»Bitte steigen Sie ein.« Der junge Mann fasste nach Gerhards Arm.
Erstaunt wandte Gerhard den Kopf zu Kron.
»Was soll das?«, fragte er.
»Die verhaften dich«, sagte Kron.
»Wieso mich?« Gerhard schaute zurück zu den Polizisten. »Den Schaller müssen Sie verhaften! Schon vor zwanzig Jahren hätten Sie das machen sollen!«
»Das können Sie uns alles auf dem Präsidium erzählen.«
Während die Polizisten ihn zum Auto führten, hingen Gerhards Augen weiterhin an Kron, wobei er den Kopf auf den Rücken drehte wie ein Kind, das man von den Eltern wegzerrt. Der Alte stand reglos in der Mitte der Lichtung, den Blick schon wieder abgewandt, als habe er ihn bereits vergessen. Langsam begann Gerhard zu ahnen, dass Kron das Letzte war, was er von Unterleuten sah.
60 Kron
Nachdem der verrückte Vogelschützer von der Polizei abtransportiert worden war und der Wald zu seiner üblichen Ruhe zurückgefunden hatte, widmete sich Kron wieder seinen Überlegungen, die ihn schon seit geraumer Zeit auf der Lichtung festhielten.
Seit dem Tag der Dorfversammlung hatte er den Windmühlenstreit als eine Art Rückspiel betrachtet. Unterschriftensammlungen, Transparente, Streik, Krönchens Verschwinden, Drohungen, Schlägereien und Hildes abtransportierte Katzen waren Spielzüge zweier gegnerischer Mannschaften gewesen, die um die Frage kämpften, ob es Gombrowski ein weiteres Mal gelingen würde, Kron zu besiegen. Jetzt hatte Kron gewonnen und musste feststellen, dass ihm Gombrowskis Niederlage herzlich egal war. Er empfand keinen Triumph, keine Erleichterung, nicht einmal Schadenfreude. Er empfand überhaupt nichts, wenn er an Gombrowski dachte. Vor seiner Gleichgültigkeit gegenüber Gombrowski stand Kron wie vor einem Spiegel, der ihn nicht zeigte. Er fühlte sich unsichtbar.
Folglich brauchte er einen anderen Grund, um zu glauben, dass zehn Windräder so viel Hass und Leid aufwiegen konnten. Er kannte nur eine Person, deren Existenz automatisch alles rechtfertigte, was man für sie tat: Krönchen. Er sah sie vor sich, fünfjährig, goldlockig, nicht viel höher als ein Küchentisch und trotzdem schon der unbestreitbare Mittelpunkt des Universums. In den Augen seiner Enkelin konnte er lesen, wie die Geschichte weiterging.
Krönchen war der Beginn einer neuen Ära. Sie würde den Knoten durchschlagen, der die Familie an Unterleuten band. Es galt, eine ganze Ahnenreihe von Bauern, Landarbeitern und Leibeigenen zu beerdigen. Was Kathrin versucht hatte, indem sie Ärztin geworden und dann doch in das verdammte Drecknest zurückgekommen war, würde Krönchen zu Ende bringen. Sie würde Jura oder BWL studieren, zur Not auch Kunstgeschichte, jedenfalls ein Fach, das außerhalb von Großstädten keinerlei Berufschancen besaß. Sie würde in Hamburg oder München leben, vielleicht sogar in New York oder Singapur, und schon ihre Kinder würden nichts mehr davon ahnen, dass sich ihre Vorfahren eine kümmerliche Existenz aus dem Märkischen Sand gekratzt hatten. Vielleicht würden Krons Urenkel in den Sommerferien nach Unterleuten kommen, um Großmutter Kathrin zu besuchen und ein paar Wochen über Stock und Stein zu toben. Für sie wäre Unterleuten eine Mischung aus Pfadfinderlager und Ponyhof, ein Ort, an dessen Gerüche man sich als erwachsener Mensch verschwommen und mit einer gewissen Wehmut erinnert. Vielleicht würden am Waldrand noch die Ruinen von zehn großen Rotoren stehen, die einst den nötigen Rückenwind erzeugt hatten, um Krönchen aus dem Dorf zu wehen.
Der Wind würde Wolfis finanzielle Impotenz ausgleichen. Der Wind würde Kathrin ein neues Badezimmer und die Erdwärmeheizung bezahlen, die sie sich schon lange wünschte. Vor allem aber sicherte er Krönchen die Möglichkeit, die sandige Sackgasse hinter sich zu lassen, in der sie geboren war. Sollten die Politiker doch weiter die Landflucht beklagen. Kron beglückwünschte jeden, dem die Flucht gelang. Sollten die verrückt gewordenen Städter kommen und die Häuser der Gestorbenen oder Geflohenen übernehmen. Typen wie der durchgedrehte Vogelschützer mochten den Ostprignitzer Fatalismus für eine Offenbarung halten und die Mentalität »sehr bodenständig« und »authentisch« finden. Aber Fatalismus war nichts weiter als Notwehr gegen Verhältnisse, die man nicht ändern konnte. So entstanden Menschen, die noch während des Weltuntergangs die Ellenbogen auf die Gartenzäune stützten und Sätze wie »Irgendwas ist immer« sagten.