Zugezogene begriffen nicht, dass der Weltuntergang hier bereits stattgefunden hatte. Mehrmals. Durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs, die bei schlechtem Wetter wahllos über dem Berliner Umland abgeworfen wurden. Durch Rot-Armisten während des Vormarschs auf die Hauptstadt. Durch die Ankunft der Vertriebenen aus Ostpreußen, die sich auf Scheunen, Ställe und halb zerstörte Häuser verteilten. Durch die Errichtung der Mauer und durch das Einreißen der Mauer. Die Überlebenden sprachen eine eigene Sprache und folgten einer eigenen Moral. Kron hatte das immer gut und richtig gefunden, schlicht aus dem Grund, dass er es für unvermeidbar hielt.
Seit er aber wusste, dass er Gombrowski besiegen konnte, ohne dass es das Geringste bedeutete, sah die Sache anders aus. Wenn Unterleuten so verkommen war, dass es noch nicht mal zum Schauplatz für ausgleichende Gerechtigkeit taugte, dann zeichnete es sich nicht durch eine eigene, sondern durch die Abwesenheit jeglicher Moral aus. Dann war es den Boden nicht wert, auf dem es stand, und verdiente die Auslöschung, die schon im Gange war. Dieses Mal nicht durch Bomben, sondern durch die Ankunft von Menschen ohne Erinnerung. Mit jedem neuen Vogelschützer und jeder neuen Pferdefrau starb ein Stück des alten Unterleutens. Je voller, teurer und lauter Berlin wurde, desto mehr Städter würden ins Umland schwappen. Sie konnten den Kreislauf durchbrechen. Sie konnten nach und nach ein neues Unterleuten begründen, eines, das weder Kron noch Gombrowski gehörte. Dann jedenfalls, wenn sie klüger waren als der Vogelschützer, der versucht hatte, das alte Spiel mitzuspielen, statt ein neues zu erfinden.
Mit Freude wollte Kron seinen Teil zur Auslöschung des Dorfs beitragen, indem er sich demnächst hinlegte und starb. Vorher aber musste Krönchen in Sicherheit gebracht werden, die noch jung genug war, um einer Infektion mit Unterleutner Vergangenheit zu entgehen. Für Kathrin war es leider zu spät. Ihm zuliebe war sie ins Dorf zurückgekehrt und hatte sich einen Ehemann gesucht, der in der echten Welt so chancenlos war, dass er ein Leben im Nichts mit ihr teilen wollte. Krons Schuld bestand darin, Kathrin nach der Flucht ihrer Mutter umso abgöttischer geliebt zu haben, wodurch er sie immer fester an sich und Unterleuten band. Schon immer hatte er an Krönchen etwas gutmachen wollen, aber erst jetzt begriff er, worin sein Auftrag tatsächlich bestand: Er musste Krönchen von hier fortbringen und sich selbst samt Unterleuten abschaffen.
Er blieb auf der Lichtung, bis es dämmerte. Immer weiter starrte er in Richtung des Landstreifens, auf dem in wenigen Monaten Krönchens Zukunft aus Stahlbeton und Aluminium errichtet werden würde. Endlich war auch in Kron das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, diese Epoche des kollektiven Wahnsinns. Mit einem kleinen Schritt war er in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden. Sich dagegen wehren zu wollen, wäre gleichbedeutend mit dem Aufstand gegen ein Naturgesetz.
Kron fühlte sich gut. Er war jetzt kein Kommunist mehr. Sondern ein Sisyphos, der verstanden hatte, dass die Lösung des Problems darin bestand, den Berg zu kaufen. Oder, dachte Kron, bevor er sich abwandte, um ins Haus zu gehen: ein Don Quijote, der entschieden hatte, seine eigenen Windmühlen zu errichten, statt gegen fremde anzurennen.
61 Gombrowski
Plötzlich roch es nach Wasser. Dann spürte Gombrowski Regentropfen, die ihm auf die Schultern tippten, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Aber er ging weiter, rammte jeden Schritt in den Boden, zertrat die Meter, die ihn von seinem Ziel trennten, unter den Stiefeln. Die Schultern hochgezogen, das alte Doggengesicht gesenkt. Alles, was er empfand, war maßloser Ärger über den Regen, der wie immer zum falschen Zeitpunkt fiel. Wochenlang hatten Betty und er um Niederschlag gebettelt; jetzt aber musste die Ernte so schnell wie möglich eingebracht werden, bevor ein Sommergewitter sie plattdrücken konnte. Es fehlten nur noch die Sektoren 17 und 23, bis spätestens neun oder zehn an diesem Abend sollte das geschafft sein, wenn nicht wieder ein Mähdrescher kaputtging. Ihm auf den letzten Metern das Getreide nass zu machen, stellte puren Hohn dar. Vor Wut bebte sein Körper wie ein Instrument nach dem Anschlagen einer Saite.
Dass er ausgerechnet in diesen Augenblicken über die Geschäfte der Ökologica grübelte, kam ihm selbst merkwürdig vor. In den möglicherweise bedeutendsten Minuten seiner Existenz regte er sich über nassen Weizen auf – wobei andererseits, dachte Gombrowski, eigentlich immer die gegenwärtigen Minuten die bedeutendsten waren. Die simple Wahrheit bestand darin, dass er keine Ahnung hatte, worüber er sonst nachdenken sollte. Der Weizen war das, was blieb.
Am Morgen hatte das Telefon geklingelt, eine junge Frau hatte gefragt, ob er Rudolf Gombrowski sei, und sofort begonnen, in hohem Tempo auf ihn einzureden. Gombrowski brauchte eine Weile, bis er verstand, was sie von ihm wollte. Fidi war in einem Vorort von Hannover aufgegriffen worden, abgemagert, verwahrlost, das Fell an vielen Stellen abgeschürft. Offensichtlich war sie auf der Suche nach dem Heimweg zwei Wochen lang im Wald herumgestreunt, bis der Hunger sie zurück in die Zivilisation getrieben hatte. Anhand der Identifikationsnummer auf dem Mikrochip hatte man Gombrowski als Halter ermittelt.
»In Hannover?«, hatte Gombrowski gefragt. »Sind Sie sicher?«
Wie er durch eine SMS von Püppi wusste, befand sich Elena in Freiburg und war wohlauf. »Ruf bloß nicht an, Papa«, hatte am Ende der Kurznachricht gestanden. Von Fidi war keine Rede gewesen.
»Natürlich sind wir sicher«, sagte die junge Frau. »Ihre Hündin befindet sich hier bei uns im Tierheim. Sie sitzt in einer Ecke des Zwingers und zittert.«
Der Gedanke an Fidis treues, unschuldiges, verwirrtes Gesicht war eine Operation am offenen Herzen.
»Ich will das Tier nicht mehr«, sagte Gombrowski. »Machen Sie damit, was sie wollen.«
Dann beendete er das Gespräch und rief Betty an, um ihr mitzuteilen, dass er heute nicht zur Arbeit kommen würde.
Der Regen verwandelte sich in einen Wolkenbruch; Dürre oder Überschwemmung waren in Unterleuten das, was anderswo Wetter hieß. Gombrowski schob die Hände in die Hosentaschen und brachte die letzten Meter hinter sich.
Der Zaun, der das Schutzgebiet umgab, war aus Stahl, fast drei Meter hoch und oben mit Zacken besetzt. Gombrowski war am Bau der Anlage beteiligt gewesen und kannte den Zugangscode. Er entsprach der Zahl des Jahres, in dem Arne das größte Projekt seiner Amtszeit realisiert hatte – 1998. Die Abhängigkeit vom Plausitzer Zweckverband war dem Bürgermeister dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er keine Ruhe gab, bis ein Verfahren gefunden war, mit dessen Hilfe man die Trinkwasserversorgung auf eigene Füße stellen konnte. So wie Gombrowski seinen alten Freund kannte, hatte er den Code bis zum heutigen Tag nicht geändert.
Nachdem er die Zahlen eingetippt hatte, surrte das Tor. Gombrowski schloss es sorgfältig hinter sich und hielt sich im Gras neben dem Kiesweg, um keine Fußabdrücke zu hinterlassen. Von außen sah Arnes Superbrunnen wie ein gewöhnlicher Geräteschuppen aus. Ein kleiner Ziegelbau mit rotem Dach, einer breiten Tür und geschlossenen grünen Fensterläden, die allerdings keine Fenster, sondern nur die nackte Wand verbargen. Unter dem unauffälligen Schachtüberbau ging es zwanzig Meter in die Tiefe. Wie das Förderprinzip im Einzelnen funktionierte, hatte Gombrowski nie verstanden. Worauf es ankam, war, dass der Brunnen Trinkwasser an die Oberfläche brachte, welches sofort in die Unterleutner Leitungen eingespeist wurde. Der Brunnen benötigte keine zusätzliche Anlage für die Wasseraufbereitung und kein erweitertes Schutzgebiet. Letzteres hatte Gombrowski damals dazu bewogen, das Projekt zu unterstützen. Die Wiese zwischen Unterleuten und Groß Väter, auf welcher der Brunnen stand, brachte der Ökologica ihr bestes Heu.