Выбрать главу

»Stellen Sie sich mal vor, Sie bestünden aus 700 Kilo Fleisch und liefen durch eine karnivore Welt«, sagte Franzen. »Dann hätten Sie auch ein Faible für klare Verhältnisse.«

Grundsätzlich sei der Mensch für Pferde ohnehin ein verdächtiges Wesen, weil seine Augen so eng beieinanderstünden. Die Fleischfressermiene.

»Jäger fokussieren«, sagte Franzen, »Opfer haben den Rundumblick.«

Beeindruckt beschloss Meiler, sich diesen Satz zu merken, um ihn beim nächsten Consulting zu verwenden. Er wurde nicht müde, seinen Kunden zu erklären, dass Erfolg vor allem Konzentrationsfähigkeit voraussetzte. Man musste sich einer Sache vollständig widmen, statt ständig in alle Richtungen nach möglichen Gefahren Ausschau zu halten.

Linda Franzen hatte weitergesprochen und führte gerade aus, dass sie in Wahrheit nicht Pferde, sondern Menschen trainiere. Sie bringe den Leuten im wahrsten Sinne des Wortes »Selbst-Bewusstsein« bei. Sie müssten lernen, ihren Körper, ihre Haltung, ihren Adrenalinhaushalt, selbst ihre Gedanken jederzeit zu kontrollieren. Kein unnötiges Schlenkern und Gestikulieren mit den Armen. Ruhige Motorik, gerader Rücken, aufgerichtetes Brustbein. Niemals aufregen, niemals wütend werden. Angst nicht nur verbergen, sondern gar nicht erst empfinden.

»Sie können Menschen beibringen, keine Angst zu haben?«, fragte Meiler und ärgerte sich im gleichen Moment über seinen ungläubigen Tonfall, der ihn endgültig in die Rolle des staunenden Zuhörers drängte. Was auch immer Franzen da gerade machte – sie machte es gut. Ihm war die Ironie abhandengekommen. Er wollte das Telefonat nicht mehr beenden, er wollte hören, was sie zu erzählen hatte.

»Ich bringe den Leuten bei, Chef zu sein«, sagte Franzen. »Wer anderen seinen Willen aufzwingen kann, hat keine Angst.«

»Jetzt bin ich aber gespannt.«

Franzen erklärte ihre Methode: Eine Übersetzung für »Macht« sei die Frage »Wer bewegt wen«. Der Mensch müsse das Pferd bewegen, niemals umgekehrt. Das Pferd habe dem Menschen in jeder Situation zu weichen. Sie zeige ihren Kunden, wie man von vorne auf das Pferd zugehe, so dass es zurücktreten müsse. Nähere man sich von schräg hinten, werde das Pferd vorwärtslaufen, trete man an die Körpermitte des Pferdes heran, weiche es zur Seite. Umgekehrt werde das Pferd dem Menschen automatisch folgen, wenn er ihm Platz mache. Daraus ergebe sich mit etwas Übung ein fein abgestimmter Tanz, und wer den beherrsche, sei eine Führungspersönlichkeit. Nicht nur in der Pferdewelt.

»Aber warum sollte ein Pferd dieses Spiel mitspielen, statt Sie einfach umzurennen?«

Linda Franzen lachte.

»Herr Meiler, Ihr Beruf lässt mich vermuten, dass Sie die Antwort kennen.«

Jetzt hatte sie ihn schon so weit, dass er verlegen schwieg. Er wusste tatsächlich nicht, worauf sie hinauswollte.

»Mit Pferden ist es wie bei Menschen. Die allermeisten haben in Wahrheit überhaupt kein Interesse daran, Chef zu werden. Sie verzichten gern auf eine Beförderung, um sich in Ruhe dem Grasen zu widmen. Pflanzenfresser eben. Die wollen nichts weiter als klare Anweisungen und ein sicheres Umfeld.«

Wenn man zu den seltenen Exemplaren gehöre, die tatsächlich Befehle erteilen wollten, fügte Franzen hinzu, genüge es im Normalfall, die richtigen Signale zu setzen.

»Chapeau«, sagte Meiler, was er noch dämlicher fand als »Touché«.

»Und jetzt kommt’s«, rief Franzen.

Sie sei dabei, ein spezielles Managertraining zu entwickeln, erklärte sie so selbstverständlich, als sei das ein völlig normaler Satz für eine Vierundzwanzigjährige. Beim Umgang mit Pferden lerne man eine Menge über Menschenführung, Hierarchien, nonverbales Kommunizieren, Motivation. Nächstes Jahr wolle sie noch ein Zertifikat in Verhaltenspsychologie erwerben, um seriöser rüberzukommen.

»Was sollen die Seminare kosten?«, fragte Meiler.

An ihrem Zögern merkte er, dass sie sich darüber bislang keine Gedanken gemacht hatte.

»2000 Euro für ein Wochenende pro Person«, sagte sie dann. »Inklusive Unterbringung, Verpflegung und Pferd.«

Meiler antwortete nicht, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm ihr Mut imponierte, ihr Optimismus und die Dreistigkeit, mit der sie nach den Sternen griff. Er fragte sich, warum es nicht Philipp sein konnte, der in ein Telefon sprach, um dem Gründer einer der ältesten deutschen Unternehmensberatungen ein Geschäftskonzept zu erklären, das auf der Idee beruhte, Männer in maßgeschneiderten Anzügen in einen stinkenden Pferdestall zu locken. Wer auch immer du bist, Linda Franzen, dachte er, meinen Respekt hast du.

»Sie könnten in Ihrer Branche ein bisschen Werbung für mich machen«, sagte Franzen. »Dafür biete ich Ihnen einen Kurs zum persönlichen Sonderpreis. Kooperative Dominanz und non-verbal leading. Wie wäre das?«

Mit vollendeter Höflichkeit bedankte sich Meiler für das Angebot und versprach, darüber nachzudenken, welcher seiner Kunden an Franzens Portfolio Interesse haben könnte. Für einen Moment sah er die junge Frau inmitten seiner Stammkunden auf einem staubigen Reitplatz stehen, Wanka, Liotard, Finkbeiner und die anderen, redlich bemüht, die Bewegungen nachzuahmen, die Linda Franzen ihnen vormachte. Daneben stand ein dümmlich glotzendes Pferd.

In den folgenden Monaten blieb Franzen am Ball. Immer wieder fand sie Anlass, um Kontakt mit ihm aufzunehmen. Eine aktuelle Flurkarte, von der sie ihm eine Kopie zukommen lassen wollte. Eine Tabelle mit Bodenrichtwerten, die bewies, dass die vier Hektar hinter ihrem Haus, aus denen sie Pferdekoppeln machen wollte, nicht mehr als 20000 Euro wert waren. Meiler wiederholte, dass er nicht verkaufen werde. Sie rief trotzdem an, und er begann, sich darüber zu freuen.

Und da war er nun. Das Navigationssystem meldete, dass er sein Ziel in drei Kilometern erreichen würde. Die Straße verließ den Wald und wurde zu einer dieser seltsamen Alleen, deren Bäume nicht senkrecht, sondern schräg von der Straße weg wuchsen.

Einem Impuls folgend, hielt er an und stieg aus. Nach der langen Fahrt in der klimatisierten Kapsel des Mercedes überfiel ihn die Hitze von allen Seiten. Es war heißer als in Ingolstadt, oder jedenfalls anders heiß, rücksichtslos, schattenlos, unbeeindruckt vom Wind. Eine Variation auf das Thema Wüste.

Vor Meiler lief die Allee eine sanfte Anhöhe hinab. In der Senke drängten sich die roten und schwarzen Dächer von Unterleuten, kaum mehr als hundert mochten es sein. Eines der Häuser stach heraus, weil sein Dach mit leuchtend blauen Ziegeln gedeckt war, die in der Sonne blitzten. Erst vor ein paar Minuten war Meiler an einer Dachdeckerei vorbeigefahren, die für Dachziegel in Knallfarben warb. Das blaue Dach sah scheußlich aus. Trotzdem mochte Meiler das Gefühl, schon jetzt zu wissen, wer es gedeckt hatte. Wahrscheinlich war er auch an den Häusern von Schreinern, Maurern und Zaunbauern vorbeigefahren, die Teile dessen, was er gerade vor sich sah, errichtet oder repariert hatten. Er stand inmitten eines Netzes von Zusammenhängen, welche die Welt zu einem kleinen, begreiflichen Ort machten.

Die Straße durchquerte Unterleuten von Nordwesten nach Südosten, wurde hinter dem Dorf erneut zur Allee und lief über mehrere Kilometer hinweg auf den Wald zu, der die flache, mit Weizenfeldern gepolsterte Senke als dunkler Saum umgab. In der Dorfmitte befand sich eine Kreuzung. Entlang der Abzweigung nach Nordosten franste das Dorf aus, die Abstände zwischen den Häusern vergrößerten sich, die Gartengrundstücke begannen, sich im Wald zu verlieren. Der nach Südwesten verlaufende Seitenarm zog sich in Kurven durch eine Neubausiedlung, in der zwanzig würfelförmige Fertighäuser auf ihren quadratischen Grundstücken standen. Neben der Kreuzung ragte ein plumper Kirchturm auf, aus Naturstein gemauert. Soweit Meiler erkennen konnte, trug er weder Glocke noch Kreuz.