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Noch einmal tippte Gombrowski »1998«, dieses Mal am kleinen Terminal der Eingangstür. Der Kamera, die über seinem Kopf hing, blickte er furchtlos ins Glasauge. Ab Mitternacht würde sein Bild mit neuen Aufnahmen überspielt werden. Die Videoüberwachung speicherte ihre Daten nur bei besonderen Vorkommnissen. Da Gombrowski die Anlage ordnungsgemäß betrat, stellte er keinen Störfall dar.

Drinnen stand er eine Weile reglos in der vollkommenen Dunkelheit und genoss es zu spüren, wie sich sein feuchtes Gesicht abkühlte. Das Auto hatte er zu Hause stehen lassen und war sieben Kilometer zu Fuß gegangen, um nicht in der Nähe des Brunnens parken zu müssen. Statt bequem an der Straße nach Groß Väter entlangzuspazieren, hatte er den beschwerlichen Weg durch den Wald gewählt. Auf diese Weise konnte er sicher sein, dass ihn niemand gesehen hatte. Er lächelte und wischte sich die Hände an der Hose ab. Im Grunde war das Schwierigste schon geschafft.

Erst als er die Taschenlampe anknipste, merkte er, wie seine Finger zitterten. Auch wenn sein Plan feststand, musste er zugeben, dass er aufgeregt war. Immerhin tat man das, was er vorhatte, nur ein Mal im Leben. Wenn überhaupt.

Das beste Mittel gegen Nervosität war Handeln, und der erste Teil der Aufgabe verlangte einiges an Kraft und Körperbeherrschung. Der Einstiegsdeckel des Schachts maß achtzig Zentimeter im Durchmesser. Er war nicht gesichert, dafür aus Gusseisen und so schwer, dass Gombrowski sein ganzes Körpergewicht zum Einsatz bringen musste, um ihn aufzustemmen. Die Taschenlampe war klein genug, um sie zwischen die Zähne zu klemmen, so dass er die Hände frei hatte. Mit einer Schulter hielt er den Deckel in der Senkrechten, während seine Füße nach den ersten Sprossen der Eisenleiter tasteten. Stufe für Stufe ließ er sich in den Schacht hinab, den schweren Deckel im Nacken balancierend, gebeugt wie Atlas unter der Weltkugel. Als der Winkel so ungünstig geworden war, dass er glaubte, dem Gewicht keine Sekunde länger standhalten zu können, zog er den Kopf ein, umklammerte die eisernen Streben der Leiter mit beiden Händen und ging ruckartig in die Knie. Der Knall, mit dem der Deckel zuschlug, erzeugte ein tausendfaches Echo im Schacht, von dem Gombrowski glaubte, dass es niemals enden würde. Als es schließlich doch verebbte, hielt er noch einige Sekunden den Atem an und wartete, bis seine Ohren zu klingen aufhörten. Die anschließende Stille machte ihm Angst. Sie war absoluter als alles, was ihm jemals begegnet war. Als er sich räusperte, sog der Schacht das Geräusch in die Tiefe. Gombrowski nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete hinunter. Nach wenigen Metern verlor sich das Licht, ohne den Grund zu erreichen. Sein Herz begann, schmerzhaft gegen die Rippen zu schlagen. Er wollte raus, er wollte Licht, Luft und Regen. Das hatte er vorhergesehen. Langsam und deutlich sagte er in Gedanken zu sich selbst, dass es unmöglich war, den schweren Deckel von innen zu öffnen. Er konnte durchdrehen, in Panik geraten, schreien und toben – an seiner Situation würde sich nichts ändern. Ein Handy hatte er selbstverständlich nicht dabei. Der Brunnen wurde alle drei Monate von einem Techniker kontrolliert. Gombrowski hatte sich nach der letzten Wartung erkundigt, sie lag erst vierzehn Tage zurück. Der einzige Weg führte abwärts.

Eine Weile konzentrierte er sich darauf, langsam zu atmen, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte. Dann klemmte er die Taschenlampe wieder zwischen die Zähne und machte sich an den Abstieg. Mit fast zwei Metern Durchmesser bot der Schacht seinem Körper ausreichend Platz; trotzdem fühlte er sich zu eng von den nackten Betonwänden umschlossen. Zwei messingfarbene Rohre stiegen aus der Tiefe herauf, die im Licht der Taschenlampe glänzten. Sie waren aus Stücken von etwa zwei Metern Länge zusammengeschraubt, anhand deren Gombrowski errechnen konnte, wie viel Abwärtsstrecke er noch vor sich hatte. Mehr gab es momentan nicht zu verstehen. Die Luft roch abgestanden. Vermutlich war der Sauerstoffgehalt nicht besonders hoch.

Er ließ sich Zeit. Sorgfältig suchte er mit dem Fuß Halt auf der jeweils nächsten Sprosse und prüfte ihre Tragkraft, bevor er sie mit seinem Gewicht belastete. Zur Eile gab es keinen Grund. Ab jetzt ging es nur noch darum, seinen Plan nicht durch eine unvorsichtige Bewegung zu gefährden. Nicht abzurutschen. Die Lampe nicht zu verlieren.

Er hatte zwanzig Stufen hinter sich gebracht, als ihn das Gefühl befiel, schon seit Tagen durch diesen Schacht zu klettern. Der Brunnen sah nach oben und unten identisch aus und besaß in beide Richtungen kein Ende. Plötzlicher Schwindel zwang ihn zum Innehalten. Gombrowski schloss die Augen und klammerte die Fäuste fest um die Leiter, während ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief.

Aus Dunkelheit und Stille tauchte eine Erinnerung auf, eine Episode aus seiner Jugend, die er vergessen oder vielleicht verdrängt hatte. Nicht lange nach dem Brand im Kornspeicher, Gombrowski war dreizehn und fing gerade an, sich als Mann zu fühlen, hatte seine Mutter plötzlich beschlossen, sein Zimmer auszumisten und von jenen Spielsachen zu befreien, mit denen er sich schon lange nicht mehr beschäftigte. Sie drückte ihm eine Schachtel in die Arme mit der Anweisung, sie in den Keller zu bringen, hinab zu den zerbrochenen Stühlen und leeren Einmachgläsern, in das Endlager der wertlosen Dinge. Inmitten von Sperrmüll und Spinnweben hatte sich Gombrowski hingekniet und die Schachtel noch einmal geöffnet. Darin lagen seine Spielzeugsoldaten, übereinander und durcheinander, ohne Ordnung und Aufstellung, ohne Rücksicht auf Dienstgrad oder Funktion, ein wirrer Haufen von steifen Miniaturkörpern. Wie Nadelstiche spürte er die anklagenden Blicke aus hundert kleinen Augenpaaren: Wie kannst du uns das antun? Du hast uns doch geliebt, wir waren immer für dich da, du bist doch unser General? Was haben wir getan, dass du uns die Treue brichst? Auf diese Fragen gab es keine Antwort, und Gombrowski hatte begriffen, was es bedeutet, erwachsen zu werden: den größtmöglichen und zugleich unvermeidlichen Verrat. Aus diesem Keller war er schuldig zurückgekehrt, das Echo einer zuschlagenden Tür auf ewig im Ohr. Auch heute stand er wieder auf einer abwärtsführenden Treppe, nur dass er diesmal keine Spielzeugsoldaten, sondern sein gesamtes Leben in den Keller trug.

Als der Schwindel nachließ und die Erinnerung verblasste, geriet Gombrowski mit einem Mal doch in Eile. Er glaubte, dass seine bebenden Kiefer die Taschenlampe jeden Augenblick fallen lassen würden. Er traute seinen schmerzenden Armen nicht mehr. Er würde das Brennen seiner Augen, das Jucken des schweißnassen Nackens nicht mehr lange ertragen. Er hatte keine Ahnung, wie er es in diesem Zustand schaffen sollte, auf der senkrechten Leiter die komplizierte Operation durchzuführen, die ihm noch bevorstand.

Die nächsten Sprossen nahm er in großer Hast. So fest bissen seine Zähne in den Griff der Taschenlampe, dass ihm der Speichel aus den Mundwinkeln rann. Zwei Mal glitt ein Fuß ab, ein Mal verlor die linke Hand ihren Griff am blanken Stahl. Als er plötzlich festen Boden unter den Füßen spürte, erschrak er dermaßen, dass er fast gestürzt wäre. In der Panik glaubte er sekundenlang, der Brunnen sei trocken. Bis er sich zur Ruhe zwang, unter sich leuchtete und endlich begriff, dass der Untergrund dröhnte wie ein riesiger Gong, vom Schacht um ein Vielfaches verstärkt, weil er aus Metall bestand, nicht aus Beton. Vor Erleichterung hätte er fast zu weinen begonnen. Er befand sich auf einer kleinen Arbeitsplattform, von deren Existenz er nichts gewusst hatte. Sie würde sein heikles Vorhaben zu einem Kinderspiel machen.