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Er ließ sich auf dem Rand der Plattform nieder, nahm die Lampe aus dem Mund und lockerte den verkrampften Kiefer. Etwa zwei Meter unter ihm stand der glatte schwarze Spiegel des Wassers, in dem die Steigleitungen verschwanden. Wenn er gegen die Rohre trat, lief ein Zittern über die Oberfläche. Alles war gut.

Er legte die Taschenlampe neben sich, sah auf die Uhr und erbrach ein Lachen, in das der Brunnen bereitwillig einstimmte. Es war früher Nachmittag an einem gewöhnlichen Mittwoch, der elfte Tag des Monats August im Jahr 2010. Diese Zahlen betrafen ihn nicht mehr. Sie meinten eine Welt, die hier unten keine Gültigkeit besaß. Gombrowski beugte sich vor, um eine Hand an die Steigleitungen zu legen. Das waren die Arterien, die ihn mit Unterleuten verbanden. Wenn der Brunnen in gut einer Stunde seine Ruhephase beendet und den Oxidationszyklus abgeschlossen hatte, würde die Pumpe zu arbeiten beginnen. Das Wasser würde durch die Rohre an die Oberfläche steigen, das Vorhaltereservoir auffüllen und von dort aus durch ein verzweigtes System aus Adern in sämtliche Haushalte Unterleutens gelangen. Gombrowski dachte an Fidi, Elena, Püppi und Hilde. Alle seine Frauen waren irgendwo da draußen, weit weg von hier, und führten ihre eigenen Leben, die er nicht mehr verstand. Von hier unten war es kaum vorstellbar, dass sie tatsächlich existierten. Er überlegte, ob es etwas zu bereuen gab, aber ihm fiel nichts ein. Es galt jetzt, die letzten Handgriffe zu erledigen.

Er krempelte die Ärmel auf, griff in die Seitentasche seiner Hose und holte ein Futteral hervor, dem er ein Skalpell entnahm. Die Taschenlampe klemmte er zwischen die Knie; das Skalpell fasste er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Weich glitt die Klinge über den rechten Unterarm. Die Haut öffnete sich widerstandslos und schmerzfrei, als hätte er einen Reißverschluss aufgezogen. Die Menge an Blut überraschte ihn nicht; sein erstes Schwein hatte er geschlachtet, als er noch keine sechzehn war. Er wechselte das Skalpell in die rechte Hand und wiederholte die Prozedur am anderen Arm. Dann ließ er das Messer fallen, es verschwand mit einem kleinen, zufriedenen Geräusch. Gombrowski knipste die Taschenlampe aus und warf sie hinterher. In völliger Dunkelheit beugte er sich vor, ließ die Arme hängen und spürte, wie ihm das Blut an allen zehn Fingern hinunterlief, begleitet von einem leisen Plätschern, wie ein Rinnsal in einer Tropfsteinhöhle. Sein Herz arbeitete auf Hochtouren, als hätte es seine wahre Bestimmung darin gefunden, das Blut so schnell wie möglich aus dem Körper zu pumpen. Immer noch kein Schmerz, nur das heiße Pulsieren der geöffneten Arme. Jetzt bedauerte er es, nicht auf den Einsatz der Unterwasserpumpe gewartet zu haben. Ein höllischer Spaß wäre es gewesen mitzuerleben, wie der Brunnen sein Blut in sich hineintrank, wie er es vibrierend und dröhnend verdaute und in die Duschen, Waschmaschinen, Geschirrspüler, Kaffeetassen und Nudeltöpfe des Dorfes spuckte. Aber darauf kam es im Grunde nicht an. Von nun an würde der Brunnen Tag für Tag Gombrowski fördern, sämtliche Körpersäfte und Substanzen in allen Phasen organischer Zersetzung, und Unterleuten würde Gombrowski trinken, essen und sich mit ihm waschen, während die Polizei nach seinem Verbleib fahndete. Bis man im Rahmen der nächsten Wartung eine Wasserprobe nehmen und einen aufgeschreckten Techniker die Leiter hinabschicken würde. Ein schöner Gedanke, an dem sich Gombrowski seit Tagen erfreute. Immer schwerer fiel es ihm, seine Sinne beisammenzuhalten. Sein Verstand geriet auf Abwege, gaukelte ihm vor, am Rand eines sonnigen Felds zu sitzen, auf dem sich schwer der Mais wiegte. Etwas Schwarzes fuhr ihm durchs Blickfeld. Dann raschelte es wieder im Mais, und Fidi sprang hervor, zeigte ihr lachendes Gesicht mit heraushängender Zunge, während sie einem Hasen hinterherjagte, und Gombrowski war überglücklich, sie zu sehen, neigte sich mit letzter Kraft nach vorn, immer weiter nach vorn, bis er kippte. Das Überwinden des Schwerpunkts ein kurzer Jubel. Der Fall entging ihm, aber das Ankommen war schön, denn unten befand sich kein Wasser, sondern Bilder, die ihn in sich aufnahmen, für immer.

62 Finkbeiner. Epilog

Einen Zufall kann man es nicht nennen, dass ich die Notiz auf Spiegel Online entdeckte. Schließlich öffne ich jeden Morgen sämtliche Beiträge der Rubrik »Panorama« und überfliege die Meldungen, während ich meine erste Tasse Kaffee trinke.

In einem Dorf der Ostprignitz im nordwestlichen Brandenburg war die Leiche eines Mannes aus einem Horizontalfilterbrunnen geborgen worden. Der 63-jährige Landwirt hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und danach unbestimmte Zeit in einem Schacht gelegen, aus dem das Trinkwasser für die angrenzende Gemeinde entnommen wird. Wie die Leiche in den Brunnen gelangt war, stand noch nicht fest. Aber im Grunde gab es nur eine Erklärung: Der Mann musste Selbstmord im Inneren des Brunnens begangen haben.

Ich weiß noch, dass ich mit wohligem Schauer innehielt und meiner Phantasie freien Lauf ließ: Nach zehn Tagen treten in der Region die ersten Fälle von Übelkeit und Durchfall auf. Zuerst glaubt man an eine grassierende Magen-Darm-Infektion, dann an einen Lebensmittelskandal, schließlich an eine geheimnisvolle Seuche. Irgendwann kommen die Behörden auf die Idee, das Trinkwasser zu kontrollieren. Tatsächlich wird Leichengift gefunden. Man lässt Taucher in den Brunnen hinab, die den Selbstmörder bergen. Der Körper ist grün und aufgedunsen wie ein Walfisch, der Leichensaft fließt aus allen Öffnungen. Ahnungslos hat das Dorf über Wochen hinweg seinen Landwirt getrunken. Eine Geschichte mit Zeug zur urban legend.

Normalerweise liest man solche Kurzmeldungen, denkt den berühmten Satz, dass das Leben die unglaublichsten Geschichten schreibt, und vergisst die Episode wieder. Aber die Leiche im Brunnen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Am Nachmittag fuhr ich in die Redaktion von Vesta, einem neu gegründeten Monatsmagazin, von dem ich gelegentlich Aufträge erhalte, und zeigte die Notiz meiner zuständigen Redakteurin. Besonders begeistert reagierte sie nicht. Wenn ich unbedingt hinfahren wolle – warum nicht. Ich könne dann ja bei Gelegenheit erzählen, ob an der Sache etwas dran sei.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Unterleuten, verbrachte drei Stunden im Märkischen Landmann und kehrte mit einer verwirrenden Sammlung von Informationen zurück. Windkraftanlagen sollten gebaut werden, ein junger Mann war bei einem Autounfall gestorben, ein älterer nach tätlichem Angriff ins Krankenhaus eingeliefert worden, eine Pferdefrau und eine Vogelfrau hatten das Dorf verlassen, es war zu einer Verhaftung gekommen, die Frau des Selbstmörders war verschwunden, ebenso wie ihr Hund, und einer gewissen Hilde waren zwanzig Katzen abhandengekommen, weshalb sie ebenfalls nicht mehr in Unterleuten lebte.

Die Redaktion sagte, das sei kein Stoff für eine Geschichte, sondern für einen Roman, und passe zudem thematisch nicht besonders gut ins Konzept von Vesta. Natürlich stehe es mir frei, der Angelegenheit auf eigene Faust nachzugehen. Wenn dabei eine magazintaugliche Reportage herauskomme, werde man zusätzlich zum Honorar die Kosten der Recherche übernehmen.

Die Kosten belaufen sich bis zum heutigen Tag auf 84 Regionalbahntickets im Wert von jeweils 10,40 Euro.

Ich war in Unterleuten. Ich habe mit jedem gesprochen, der zum Reden in der Lage war, mit den Hauptbeteiligten, aber auch mit Björn, Verena und Wolfi, mit einem Pressesprecher der Vento Direct und vielen anderen mehr. Ich habe Püppi Gombrowski in Freiburg und Krons Ex-Frau in Düsseldorf angerufen, ich habe Hilde Kessler im Altersheim besucht. Die transkribierten Interviews füllen zwanzig Aktenordner. An manchen Tagen geht mir das Blättern in den sperrigen Ordnern so sehr auf die Nerven, dass ich den Tag herbeisehne, an dem ich sie stapelweise ins Auto schleppen werde. Ich werde damit quer durch Berlin fahren und im absoluten Halteverbot direkt vor dem Redaktionsgebäude von Vesta parken. Der Portier wird mir nicht beim Ausladen helfen, weil er seinen Platz hinter der Glasscheibe nicht verlassen darf. Ich werde alle zwanzig Ordner nach und nach in den Fahrstuhl tragen, dabei einen Ordner verwenden, um die Tür zu blockieren, und meine Last auf diese Weise in die Redaktion transportieren, die mit der Erstattung der Recherchekosten das Eigentum an sämtlichen Unterlagen erworben hat. Inzwischen wird das Telephon des Portiers mehrmals klingeln, weil sich die Kollegen im siebten Stock über den blockierten Fahrstuhl beschweren.