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Mit anderen Worten, ich habe eine Menge Material gesammelt. Sämtliche Beteiligten fühlen sich im Recht und verspüren deshalb einen starken Drang, ihre Version zu erzählen. Inzwischen kann ich behaupten, Unterleuten recht gut zu kennen, was nicht bedeutet, dass ich etwas verstanden habe. Manche Einwohner rufen mich immer noch an. Kathrin zum Beispiel, die nun doch ihren Job in der Pathologie aufgibt, nachdem sie von Arne das Bürgermeisteramt übernommen hat. Krönchen macht sich nicht so gut in der Schule, aber ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass sie das Kind zu sehr verwöhnt. Den Namen des Dorfs musste ich ändern, ebenso die Namen von lebenden Personen, soweit diese darauf bestanden. Nicht allen war das wichtig. So heißt Gerhard Fließ tatsächlich Gerhard Fließ, aber Kathrin Kron heißt nicht Kathrin Kron.

Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus. Ich konnte stundenlang hineinsehen. Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.

So behauptet Kathrin, ihr Vater sei an einer Intoxikation mit Leichengift zugrunde gegangen. Feststeht, dass er kurz nach Gombrowskis Tod erkrankte und sie ihn sechs Monate in seinem Haus im Wald gepflegt hat, bevor er im Februar 2011 im eigenen Bett verstarb. Dass Kron unter keinen Umständen bereit war, sich in ein Krankenhaus verlegen zu lassen, versteht sich von selbst. Sein Standardsatz lautete: »Wozu hat meine Tochter den Quatsch denn gelernt?«

Gerade als Medizinerin sollte Kathrin eigentlich wissen, dass so etwas wie Leichengift gar nicht existiert. Hätte Gombrowski vor lauter Hass beschlossen, sich eine Portion Rhizin in die Taschen zu stecken, wäre nicht nur Kron gestorben, sondern ganz Unterleuten, und das nicht erst nach sechs Monaten Pflege.

Laut Wikipedia sind die biogenen Amine, die beim Fäulnisprozess eines Kadavers entstehen, weitgehend ungiftig. In alten Zeiten funktionierte das klassische Brunnenvergiften mit Leichen aufgrund von bakteriellen Infektionen, vor allem in Phasen von Pest oder Cholera. Da manche Unterleutner ihr Wasser direkt aus der Leitung trinken, sind leichte Erkrankungen denkbar, weshalb nicht ausgeschlossen ist, dass Gombrowski tatsächlich nur aufgrund von Brechdurchfällen gefunden wurde. Auch wenn Arne hartnäckig bestreitet, dass es irgendwelche Symptome gegeben habe. Seiner Aussage nach kann Gombrowski nicht länger als drei Tage im Brunnen gelegen haben und war bei der Bergung weder verwest noch gequollen, sondern einfach nur blass, was Arne beschwört, weil er, wie er sagt, persönlich dabei war. Das deckt sich allerdings nicht mit dem Bericht der Gerichtsmedizin; zudem liegt Gombrowskis Verschwinden fast vier Wochen vor dem Tag seiner Entdeckung.

Wovon sich Kron nie wieder erholt hat, ist in Arnes Augen die Tatsache, dass Gombrowski ihm aus dem Jenseits eine lange Nase dreht, weshalb er ihm gar nicht schnell genug folgen konnte, um den Kampf in einer anderen Welt wiederaufzunehmen. Wenn ich in Unterleuten eins gelernt habe, dann dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.

Von Frederik heißt es im Dorf, er sei tot, dabei habe ich ihn im letzten Herbst mehrmals im Krankenhaus besucht. Wie es zu dem Gerücht kam, liegt auf der Hand – beim Autounfall hat er sich das Genick gebrochen. Anscheinend fällt dem Schicksal auch nicht immer etwas Neues ein. Anders als Schaller hat Frederik immerhin das Gedächtnis nicht verloren. Gesundheitlich geht es ihm inzwischen wohl wieder recht gut. Die Polizei kam zum Ergebnis, dass es sich um ein selbstverschuldetes Unglück ohne Fremdeinwirkung gehandelt habe, und Frederik sagt, er habe nicht widersprochen. Er lag schon die achte Woche im Krankenhaus und hatte wieder angefangen, an seinem Konzept für ein digitales Naturschutzgebiet zu arbeiten, als die Nachricht kam, dass Traktoria an einen großen Spielekonzern verkauft wurde. Timo und Ronny wollen mit Weirdo und einem neuen Projekt richtig durchstarten, aber davon ein andermal.

Von Linda hat man im Dorf niemals wieder etwas gehört; laut Frederik ist sie nach Oldenburg zu ihrem Pferd zurückgekehrt. Die Villa Kunterbunt steht wieder zum Verkauf. Es heißt, sie bringe ihren Besitzern Unglück.

Aus der Untersuchungshaft wurde Gerhard Fließ bald wieder entlassen, da keine Fluchtgefahr bestand. Während er auf seinen Prozess wartet, lebt er wieder im Haus am Ortsrand mit Blick auf die Birnbaumallee. Das Gras im Garten ist sorgfältig gemäht, die Himbeeren wurden gegen Forsythien ausgetauscht. Die Anstellung beim Vogelschutzbund ist er los, aber es heißt, dass er als Aushilfe bei der Ökologica eingesprungen ist und sich inzwischen in der Leitung des Betriebs unverzichtbar gemacht hat. Böse Zungen sagen, dass Fließ in Betty die einzige Frau Unterleutens gefunden hat, die genauso jung ist wie Jule. Wobei Jule eher glaubt, dass Bettys Attraktivität in ihrem Erbe besteht. Wahrscheinlich will Gerhard bei der Ökologica einen Fuß in die Tür kriegen, bevor er vielleicht eine Weile ins Gefängnis muss.

Jule ist das alles erstaunlich gleichgültig. Sie bereitet ihre Doktorarbeit vor, in der sie eine moderne Soziologie des Ruralen entwickeln will, hat die Scheidung eingereicht und sich eine kleine Wohnung in Schöneberg genommen. Gegen Gerhards Besuchsrecht wehrt sie sich bislang mit Erfolg. Manchmal ist Sophie vormittags ein paar Stunden bei mir, wenn Jule in die Bibliothek muss. Ab dem Sommer bekommt sie ein Stipendium, und einen Krippenplatz für Sophie hat sie dann auch. Zwischen uns hat sich eine Freundschaft entwickelt, von der ich hoffe, dass sie die Arbeit an der Geschichte überdauert.

Von Betty weiß ich, dass Hilde im Altersheim eine Katze halten darf, die sie immer öfter zu füttern vergisst. Krönchen fährt schon allein mit dem Bus in die Grundschule nach Plausitz und spricht davon, dass sie später Jäger werden und im Haus ihres Großvaters leben will. Elena ist weder für die Beerdigung ihres Mannes noch für Räumung und Verkauf des Hauses nach Unterleuten zurückgekehrt. Ich stelle mir gern vor, dass sie wenigstens nach Hannover ins Tierheim gefahren ist, um Fidi zu sich nach Freiburg zu holen; leider handelt es sich dabei vermutlich um eine reine Wunschphantasie. Vor ein paar Tagen fand ich im Internet eine kurze Notiz zu einem Theaterstück namens »Fallwild« von Wolf Hübschke. Es dreht sich um eine Dorfgemeinschaft, die am Streit über ein paar Windräder zerbricht, und wurde an einer kleinen Bühne in Graz uraufgeführt. Die Rezensionen sind spärlich und mittelmäßig, vermutlich wird das Stück bald wieder abgesetzt.

Seltsamerweise denke ich am häufigsten an Schaller. Daran, wie er allein in einem ansonsten unbesetzten Mehrbettzimmer des Plausitzer Krankenhauses liegt, kein Buch liest, nicht fernsieht, sondern immer nur unverwandt aus dem Fenster schaut, mit dem leeren Blick eines Tiers, das nicht versteht, warum es geschlagen wird. Er wartet darauf, dass sein Körper die Metallplatten im rechten Oberschenkel akzeptiert, und lauscht währenddessen auf das Röhren eines postgelben MG, der nicht kommt. Er begreift nicht, warum Miriam nicht an seiner Bettkante sitzt. Warum sie ihm nicht über die Stirn streicht und seine Hand hält wie beim letzten Mal. Mit mir hat er kaum geredet. Einmal fragte er mich, ob er tatsächlich eine Tochter habe oder ob das nur eine Einbildung sei. Nach meinem letzten Besuch bei ihm rief ich Miriam an. Sagte ihr, dass er an der Schlägerei mit Gerhard absolut unschuldig sei und nichts mit dem Tod von Gombrowski zu tun habe. Dass sie ihn endlich besuchen solle. Vielleicht war das unprofessionell, aber das ist mir egal.