Er atmete tief ein und wunderte sich darüber, wie viel Luft in seine Lungen passte. Es roch nach warmem Asphalt und nach Dünger. Das Ausatmen schien Minuten zu dauern. Es war unglaublich still. Irgendwo im Dorf erklangen in großen Abständen Hammerschläge, die die Stille eher vergrößerten als störten. Meiler sah Felder, vom leichten Wind in Wellen bewegt, er sah Wald und versuchte zu begreifen, dass er sein Eigentum betrachtete. Bislang hatte er sich nie richtig klargemacht, dass die ganze Welt aus Eigentum bestand und dass die einzigen Dinge, die niemandem gehörten, Ozeane, Luft und Menschen waren, wobei nicht einmal das wirklich stimmte. Im Grunde, dachte Meiler, war es erstaunlich, dass es so wenig Kriege gab.
Während er stand und schaute, breitete sich ein Wort in ihm aus: Heimat. Unterleuten war nicht seine Heimat, er hatte nicht einmal Verwandte in der Region. Aber Unterleuten sah aus wie etwas, das man Heimat nennen konnte.
Als die Kinder noch zur Schule gegangen waren, wurden einmal im Jahr Westpakete in die DDR geschickt, mit Schokolade, Jeans und Grußkarten aus dem freien Westen. Die meisten Kinder adressierten ihr Paket an einen Cousin in der Ostzone, den sie noch nie gesehen hatten. Meilers Söhne schickten ihre Päckchen an Fremde. Einmal hatte Philipp gefragt, warum sie keine Familie in der Ostzone besäßen. Er würde nämlich gern dorthin ziehen, um mit dieser anderen Familie zu leben. Da war Philipp sieben. Schon früh verlangten seine Fragen keine Antworten, sondern waren als Vorwürfe formuliert.
Meiler dachte an Ingolstadt, an seine geräumige Villa am Stadtrand. Ein Sohn nach dem anderen war ausgezogen, und auch Mizzie lebte nicht mehr dort. Die Türen der vielen Zimmer hielt er geschlossen, weil er ohnehin nur Küche, Schlafzimmer und Bad benutzte. Wenn er die Augen schloss, konnte er ganz deutlich den Klang seiner Schritte im stillen Flur hören, und dann musste er die Augen aufreißen und an etwas anderes denken.
Am Rand von Unterleuten stieg Rauch auf.
»Da verbrennt jemand Gartenabfälle«, sagte Meiler, obwohl es völlig unsinnig war, diesen Satz laut in die Stille zu sprechen.
Er drehte sich um und stieg in den Roadster. Der gekühlte Innenraum empfing ihn mit jener sterilen Anonymität, die er so schätzte. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass es ein Fehler war, hierherzukommen.
4 Schaller
»Komm schon. Nicht mit mir. Ich kenne solche wie dich.«
Schaller lag auf dem Rücken. Er trug Arbeitsstiefel und eine abgeschnittene Jeans, über deren Bund sich die gewaltige Masse seines Bauchs wölbte. Der Oberkörper war nackt und nur an der Vorderseite mit einer Lederschürze bedeckt. Schmerzhaft bohrten sich kleine Steine in die Rückenhaut.
»Es könnte so einfach sein. Aber nein, immer Scherereien, immer dieses Getue. Warum eigentlich? Ich bin nicht schlechter als die anderen. Ich versuche, das Beste rauszuholen. Für mich, aber auch für dich. Die meisten anderen hätten dich einfach ins Nirwana geschickt. Letzte Fahrt, ganz unpersönlich, und dann Good-bye, Stranger.«
Schaller bewegte die Schultern, um seine Lage neu zu justieren. Wegen des Bauchs passte er nicht zusammen mit dem Rollbrett unter die Autos. Also schob er seine 115 Kilo rücklings über den schorfigen Beton, um an den Unterboden heranzukommen. Das war nicht nur unbequem, sondern eine völlig arbeitsfeindliche Lage. Er konnte die Arme kaum bewegen und hatte nicht genug Platz, um den richtigen Winkel und die geeignete Distanz zu finden. Die Schweißbrille war von Rußpartikeln zugesetzt, was die Sicht behinderte. Der Auspufftopf über ihm bestand hauptsächlich aus Rost und Löchern. Es gab kaum noch Substanz zum Schweißen. Trotzdem blieb die Sache eine einfache Rechnung: Wenn er den Auspufftopf durch einen neuen ersetzen würde, lohnte das Geschäft nicht. Wenn es hingegen gelang, ihn mit dem Schweißgerät so weit abzudichten, dass der rote Golf die Abgasuntersuchung bestand, machte Schaller einen guten Schnitt. Also schweißte er, Loch für Loch, in winzigen, behutsamen Punkten, ein feines Netz aus Schweißnähten, ein Kunststück, das eigentlich gar nicht gelingen konnte. Niemandem außer ihm.
»Aber ich gebe nicht auf. Ich bin daran gewöhnt, dass man mir Steine in den Weg legt. Das kenne ich gar nicht anders.«
Die Operation wäre erheblich leichter gewesen, wenn er nicht eingequetscht unter dem Auto gelegen hätte wie ein überfahrenes Wildschwein. Natürlich hätte er im Hof eine Arbeitsgrube anlegen können. Aber er ging mit gutem Recht davon aus, seine Hebebühne wiederzubekommen. Sie hätte eigentlich längst da sein sollen. Die Scheune war gut als Werkstatt geeignet, nicht riesig, aber ausreichend. Leider einsturzgefährdet. Es fehlten noch ein paar Handgriffe, damit sie die nächsten zwanzig Jahre überstand. Ringanker, gelaschte Dachbalken, Teilfundament. Nichts, was sich für einen wie Schaller nicht machen ließ. Als er begonnen hatte, das Dach abzudecken, wäre er nicht im Traum darauf gekommen, dass sich irgendjemand außer ihm selbst dafür interessieren könnte.
»Ein Schritt nach dem anderen. Das ist meine Philosophie. Immer nur an den nächsten Schritt denken, dann kommt man ans Ziel, irgendwann. Das ist der Weg für Leute, denen nichts geschenkt wird. – Scheißvieh!«
Er trat sich mit dem rechten Stiefel gegen den linken Unterschenkel. Die Pferdebremsen nutzten seine hilflose Lage, um auf der nackten Haut der Beine zu landen. Er legte das Schweißgerät zur Seite und zog die Schutzhandschuhe aus. Sein Gesicht brannte von der starken UV-Strahlung, die die Schweißflamme erzeugte. Von der Hitze unter dem Auto war ihm schwindlig. Außerdem war der Gestank der brennenden Reifen schwer zu ertragen, auch wenn der Wind seit Tagen zuverlässig im Südosten stand.
Er stemmte die Füße in den Boden und zog sich unter dem Wagen hervor. Aus dem Wassereimer, der ihm als Kühlbox diente, nahm er eine Dose Bier, öffnete sie, trank sie aus, zerdrückte sie in der Faust und warf sie auf den Haufen zu den anderen. Leergut brachte er aus Prinzip nicht zurück. Dosenpfand interessierte ihn genauso wenig wie die restlichen sinnlosen Regeln, aus denen die Welt bestand. Er konnte richtig und falsch ohne fremde Hilfe auseinanderhalten. Er tat niemandem grundlos weh und war ein Typ, der mit sich reden ließ. Ansonsten wollte er seine Ruhe. Wie jeder vernünftige Mensch. Er verstand nicht, was die Leute gegen ihn hatten. In Gombrowskis Drecknest war er von Anfang an nicht willkommen gewesen. Hinter seinem Rücken verzogen die Menschen die Gesichter. Die einen kannten ihn von früher und glaubten, gewisse Sachen über ihn zu wissen. Die anderen kamen aus Berlin und hielten sich für etwas Besseres.
Wie die Vogelschützer. Er hatte den Vogelschützern nichts getan. Sie hätten herüberkommen können und mit ihm reden. Stattdessen schickten sie einen Sakkoträger vom Bauamt, der ihm die Sanierung der Scheune verbot. Statisches Gutachten! Dass er nicht lachte! Schaller hatte sein Leben lang Dinge repariert, Häuser, Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen. Das war nun einmal der Lauf der Welt: Sachen gingen kaputt und mussten repariert werden. Was er dafür gewiss nicht brauchte, war eine Genehmigung. Die Anzeige beim Bauamt brachte den Nachbarn eine Woche Gummi. Schaller hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass Menschen Raubtiere waren. Jeder saß auf seiner Beute und schlug nach den anderen. Raubtiere verstanden nur die Sprache der harten Hand. Den stinkenden Qualm hatten sich die Vogelschützer redlich verdient, und die Polizei würde ihnen ganz gewiss nicht helfen. Nicht, solange es noch Leute gab, die Schaller anriefen, sobald sich in Plausitz ein Streifenwagen Richtung Osten in Bewegung setzte. Er nahm die Schweißbrille ab und rieb sie an der kurzen Jeans sauber.
»Es ist ganz einfach«, sagte er zum roten Golf. »Bei mir darf jeder selbst entscheiden. Wenn einer die harte Tour verlangt, soll er sie bekommen. Da bin ich ganz Dienstleister.«
Er zündete eine Zigarette an, die nach verbranntem Gummi schmeckte.