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»Für dich heißt das: Ich mache weiter, bis wir uns einig sind. Oder bis du mir unter den Händen zusammenbrichst. Ganz einfach.«

Wenn es gelang, den roten Golf flottzukriegen, würde er ihn an einen Vater verkaufen, der ihn seiner Tochter zum 18. Geburtstag schenkte. Samstagabend würde die Tochter den Wagen mit ihren niedlichen Freundinnen besetzen, die Musik bis zum Anschlag aufdrehen und am »Atlantis« in Plausitz vorfahren. Ein schöneres Restleben konnte der Golf gar nicht bekommen. Vorausgesetzt, er zeigte sich einsichtig.

Schaller warf die Zigarette weg, setzte die Brille wieder auf und kroch unter das Heck des Wagens. Jetzt kam die schwierigste Stelle. Entlang der alten Schweißnaht verlief ein Riss. Weil sich das Metall des Topfs verzogen hatte, klaffte der Spalt einen halben Zentimeter auseinander. Da kam er mit einfachem Punkten nicht weiter. Es galt, die beiden Seiten zusammenzudrücken, ohne das Material unter Spannung zu bringen, und das Schweißgerät mit äußerster Vorsicht zu führen.

Auch seine Tochter Miriam hatte zum 18. Geburtstag ein Auto bekommen, allerdings keinen Golf, sondern etwas Besonderes. Es war Schallers erste Arbeit auf dem neuen Hof in Unterleuten gewesen, praktisch ohne Werkzeug, ausgeführt mit Messer und Gabel und einer großen Portion Vaterliebe. Ein MG, GT-Modell aus der B-Reihe von 1973, ziemlich heruntergekommen und fast geschenkt. Schaller hatte den kleinen Sportwagen komplett entkernt und ihm eine 3,5-Liter-V8-Maschine von Rover eingebaut, die er vor längerer Zeit von einem seiner Zulieferer erhalten hatte. Somit gehörte der Wagen nun zu den nur 2.500 Exemplaren des MGB GT V8, die jemals hergestellt worden waren – in diesem konkreten Fall nicht von Morris Garages, sondern von Schaller selbst. Farblich hatte er sich für ein helles Postgelb entschieden, das nicht der britischen Originalfarbpalette entstammte, dem klassischen MG-Gelb aber zum Verwechseln ähnlich sah. An der gesamten Berliner Angeberschule, die Miriam besuchte, gab es niemanden, der ein schöneres Auto fuhr, die Lehrer eingerechnet. Schallers Herz dehnte sich, wenn das tiefe Röhren des Drei-Liter-Motors auf der Unterleutner Landstraße erklang.

Obwohl Miriam seit Schallers Unfall bei ihrer Mutter in Berlin wohnte, fuhr sie mindestens einmal in der Woche zu ihm raus. Dann saßen sie nebeneinander im Hof in der Abendsonne und tranken Bier. Während Miriam von ihren Freundinnen erzählte oder die neueste Niederlage des Fußballvereins schilderte, in dem sie seit ihrer Kindheit spielte, schwieg Schaller andächtig. Es war so schön, neben ihr zu sitzen, dass er es kaum ertrug. Heimlich bewunderte er ihr glattes Gesicht, die langen braunen Haare, die runden Schultern. Alles an ihr war kräftig und gesund. Sie war keine hysterische Bohnenstange wie die Mädchen aus der Stadt. Sie besaß einen Motorradführerschein und einen festen Händedruck, auch wenn ihre Augen sanft waren wie bei einem Pflanzenfresser. Es gab nichts und niemanden auf der Welt, den Schaller so liebte wie sie.

Er kroch noch ein Stück tiefer unter den Golf. Das Schweißgerät brauste zu dicht vor seinem Gesicht und blendete ihn. Wenn er so weitermachte, würde er sich trotz Brille die Augen verblitzen. Eine Pferdebremse landete auf seinem Unterschenkel und hatte zugebissen, bevor er sie verscheuchen konnte. Schaller fluchte durch die Zähne. Erneut brachte er sich in Position, zielte und stellte das Schweißgerät an.

»Deine Entscheidung«, sagte er.

Ein minimaler Widerstand gab nach, als der Schweißkopf die poröse Außenhaut des Topfs durchstieß. Ein großes Stück des korrodierten Metalls brach heraus und fiel Schaller ins Gesicht. Sekunden später war er aufgestanden und hatte das Schweißgerät weggestellt. Er wusste, wann er verloren hatte.

»Ob das ein Sieg für dich ist, kannst du dir selbst überlegen«, sagte er.

Mit der linken Hand fischte er die nächste Bierdose aus dem Eimer, mit der rechten hob er eine Metallstange vom Boden auf. Als Erstes zertrümmerte er die Scheinwerfer des Golfs, danach schlug er sämtliche Scheiben ein. Mit wenigen weiteren Schlägen verwandelte er die rote Lackierung in ein abstraktes Gemälde aus Kratzern und Dellen. Als die Beifahrertür schief in den Angeln hing, hörte er auf. Er hatte soeben eine Menge Ersatzteile zerstört, aber das musste man sich leisten können. Das mit der netten Abiturientin hätte er wahr gemacht. Er hätte dem Golf eine Abgasuntersuchung und ein gutes Zuhause besorgt. Die Schläge fügte sich das Auto im Grunde selbst zu. Der Golf hatte sich freiwillig und in Kenntnis aller Folgen gegen die Zusammenarbeit entschieden. Es war wichtig, solche Dinge ganz klar zu sehen. Schaller hatte Prinzipien. Er tat niemandem weh, der das nicht wollte. Er ließ Menschen und Dingen stets ihren freien Willen. Nachdem er die Metallstange zurück auf den Boden geworfen hatte, hob er die Bierdose und prostete den fest verschlossenen Fenstern der Vogelschützer zu.

Aus zwei Ölfässern und einem Brett hatte er eine Bank gebaut, die so hoch war, dass er die Beine baumeln lassen konnte wie ein Kind. Dort saß er gern und ließ den Blick auf seinem neuen Zuhause ruhen. Langsam nahm der Hof Gestalt an. Er war nicht groß, vielleicht vierzig Schritte im Quadrat, bot aber durch die Nebengebäude, die ihn von zwei Seiten einfassten, genügend Platz für alle Besitztümer. Neben der Scheune, die auf ihren Umbau wartete, gab es einen ehemaligen Hühnerstall mit unbeschädigtem Dach, in dem alles lagerte, was trocken bleiben musste. Die Seite zur Straße wurde zur Hälfte vom Wohnhaus eingenommen, welches eng und dazu feucht vom langen Leerstehen war. Schaller störte das nicht, er verbrachte ohnehin die meiste Zeit im Freien. Ans Haus grenzte eine Mauer, die den Hof zur Straße abschirmte. In der Mauer befand sich ein Tor, doppelflügelig, mannshoch und breit genug, um bei Bedarf auch größere Transporter einzulassen. Die vierte Seite würden die Vogelschützer mit ihrer Mauer schließen, sobald sie die nötige Baugenehmigung erwirkt hatten. Dafür drückte er ihnen die Daumen. Gegen die Idee mit der Mauer hatte er nichts einzuwenden. Er freute sich darauf, die vorwurfsvollen Blicke der rothaarigen Prinzessin nicht mehr sehen zu müssen. Überhaupt lief insgesamt alles rund. Endlich befand sich sein Leben wieder auf dem richtigen Pfad. Selbst die Genehmigung für den Umbau der Scheune war letztlich nur eine Frage der Zeit. Unterleuten war Mischgebiet und kein Luftkurort für feindselige Vogelschützer. Schaller gründete eine Existenz, er schaffte einen Arbeitsplatz, nämlich für sich selbst. Außerdem brachte er seit Jahren Gombrowskis Traktoren mit oder ohne Bremsbeläge durch den TÜV, und Gombrowski spielte mit dem Bürgermeister Skat und stiftete jedes Jahr ein paar Bierfässer für die freiwillige Feuerwehr. Alles würde sich fügen, über kurz oder lang. Es ging ihm gut. Nach seiner persönlichen Zeitrechnung war Schaller keine zwei Jahre alt. In diesem Alter hatte man ein Recht darauf, mit sich und der Welt zufrieden zu sein.

Vor knapp zwei Jahren, an einem trüben Novembermorgen des Jahres 2008, war Schaller aus dem künstlichen Koma erwacht. Nach 25 Tagen. Er hatte einen sterilen Raum vorgefunden, vollgestopft mit tickenden und blinkenden Maschinen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits fünf Mal operiert worden und trug eine drei Zentimeter lange Titanschraube im Genick, welche die gebrochenen Halswirbel miteinander verband. Ansonsten bestand er aus Augen, mit denen er sehen, einem Mund, der brüllen, und Gliedmaßen, die um sich schlagen konnten. Etwas, das Schaller hieß, war nicht mehr vorhanden. Kein Name, kein Alter und keine Geschichte. Das Einzige, woran er sich noch erinnerte, war das rundliche Gesicht eines braunhaarigen Engels.

Wenig später saß der Engel leibhaftig an seinem Bett, hielt seine Hand und weinte viel. Jeden Tag nach der Schule kam Miriam zu ihm ins Krankenhaus. Man hatte ihm gesagt, dass Miriam seine Tochter sei, aber Schaller wartete auf sie wie ein Kleinkind auf die Mutter. Sobald sie hereinkam, gingen in seinem dumpfen Schädel die Lichter an. Er lag auf dem Rücken, mit Gurten fixiert, die ihn daran hinderten, mehr als die Augen zu bewegen, und lächelte strahlend, während Miriam »Hallo, Papa« sagte und auf einem weißen Kunstlederhocker mit Rollen so nah wie möglich ans Bett heranrückte. Für Monate blieb diese Anordnung Schallers neue Existenz, der Rahmen, in dem sich seine Wiedergeburt vollzog. Miriam sitzend, er liegend, immer Hand in Hand.