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Unter Anleitung eines ganzen Ärzte- und Psychologenteams führte Miriam ihn durch die Kulissen seines früheren Lebens. Ihre erste gemeinsame Aufgabe bestand darin, den Unfall zu rekonstruieren. Alles, was sie zutage förderten, floss in die Akten der Kriminalpolizei, um dort folgenlos verwahrt zu werden.

Das Motorrad hatte einem Kunden gehört, eine BMW R 1200 GS. Schon nach wenigen Sitzungen mit Miriam konnte er sich an die Reparatur der GS in allen Einzelheiten erinnern: Er hatte einen Schaden am Hinterachsgetriebe so geschickt behoben, dass er ein komplett neues Getriebe in Rechnung stellen konnte, ohne ein einziges Ersatzteil kaufen zu müssen. Wie immer startete er die Maschine nach erfolgreicher Reparatur für eine Probefahrt.

Sein damaliger Hof lag in Niederleusa, direkt am Wald. Um die Bundesstraße zu erreichen, musste man den alten Postweg nehmen, eine bucklige Kopfsteinpflasterpiste, die sich Richtung Nordosten durch den Kiefernforst zog. Es war der 3. November 2008, als Schaller das Hoftor öffnete und die BMW GS vom Grundstück fuhr. Motorräder waren seine Leidenschaft. Während er im Krankenhaus mit Miriam sprach, konnte er plötzlich wieder fühlen, wie seine Hände an den Lenkergriffen zu kribbeln begannen, während der Boxermotor am Tank rüttelte.

Selbst einem geländegängigen Modell wie der GS waren auf dem Kopfsteinpflaster des Postwegs keine hohen Geschwindigkeiten zuzumuten, weshalb Schaller nicht schneller als 60 km/h fuhr. Auch bei geringerem Tempo hätte er den Pkw nicht gesehen. Der Wagen stieß aus einem ungepflasterten Stichweg, der normalerweise nur von Forstfahrzeugen benutzt wurde. Der Kühler des Pkw traf das Hinterrad der GS. Schaller wurde in die Luft geschleudert und flog zehn Meter weit in den Wald, wo die Bäume dicht genug standen, um einem fliegenden Motorradfahrer das Genick zu brechen. Es war das Verhalten des Motorrads, das ihm das Leben rettete. Statt ebenfalls im Wald zu verschwinden, drehte sich die Maschine eine Weile um sich selbst und blieb mitten auf der Straße liegen, Mahnmal eines soeben geschehenen Unglücks. Das Vorderrad zeigte genau in die Richtung, wo Schaller im Farn verborgen lag. Nachdem ein Jogger mit Hund und Handy erst die GS und dann Schaller gefunden hatte, vergingen noch knapp 40 Minuten, bis sich der Schwerverletzte in einem Hubschrauber auf dem Weg nach Berlin befand.

Der Kripo-Beamte aus Potsdam zeigte sich deutlich angewidert davon, in ein Berliner Krankenhaus fahren zu müssen, um einen Zeugen mit retrograder Amnesie in einer Bagatellsache zu befragen. Seine Lederjacke quietschte gequält bei jedem Atemzug. Am liebsten hätte er in die Akte geschrieben, dass Schaller wegen überhöhter Geschwindigkeit ohne jede Fremdeinwirkung von der Straße abgekommen sei – wären da nicht die grünen Lackspuren am schwarzen Hinterteil der GS gewesen. Der Kripo-Beamte sagte »Fahrerflucht« und versprach, der Sache auf den Grund zu gehen.

Schaller war es gleichgültig, was die Polizei machte. Trotz Gedächtnisschwund war ihm sein Abscheu vor Behörden erhalten geblieben. Die Polizei tat eine Weile so, als würde sie ermitteln, und stellte das Verfahren ein.

Drei Monate später wurde Schaller entlassen. Mit Halskrause saß er neben Miriam im Taxi und versuchte sich vorzustellen, was ihn erwartete. Sie hielten vor einem Haus, an das er sich vage erinnerte. Der Gerichtsvollzieher musste da gewesen sein. Niemand sonst käme auf die Idee, einen Brief an die Tür zu kleben.

»Es tut mir so leid«, sagte Miriam.

Als sie die Haustür öffneten, schoben sich dahinter Schichten von Kuverts, Prospekten und Zeitungen zu einem Berg zusammen, der raschelnd gegen die Wand gedrückt wurde – das Ergebnis von fünf Monaten unverdrossener Briefträgertätigkeit. Erstaunt stellte Schaller fest, dass sein Leben anscheinend auch ohne ihn einfach weitergegangen war. Allerdings hatte sich wohl einiges verändert. Abgesehen von dem Haufen Post im Flur war das Haus weitgehend leer. Die schäbige Kücheneinrichtung war noch da, für deren Ersetzung er laut Miriam jahrelang gespart und dann das Geld doch immer für etwas anderes ausgegeben hatte. Im Wohnzimmer standen ein Sessel und ein Fernseher und gaben vor, auf Schaller zu warten, während im Schlafzimmer das Bett fehlte. Stattdessen lag eine Matratze am Boden, darauf eine gefaltete Decke und ein Kissen.

Angesichts von Miriams Existenz war Schaller bereits auf die Idee gekommen, dass es eine Frau in seinem Leben geben musste. Aber weil Miriam das Thema die ganze Zeit sorgfältig ausgeklammert hatte, wollte er nicht nachfragen. Jetzt fing sie angesichts der leeren Räume an zu weinen.

»Mama hat die ganzen Sachen abholen lassen. Nach deinem Unfall sind wir sofort weg.« Sie fasste nach seiner Hand. »Ich wollte das nicht, aber was sollte ich tun? Die Ärzte meinten, ich soll dir nichts davon erzählen, bis du dich erholt hast. Ich dachte …«

Schaller nahm sie in den Arm und küsste sie auf den Scheitel. Es war das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber wie ein Vater fühlte und nicht wie ein Sohn.

»Tapferes Mädchen«, sagte er. »Fahr jetzt …«, er zögerte, »zu deiner Mama.«

»Aber du kannst doch nicht hier alleine …«

»Ich komme zurecht.«

»Der Kühlschrank ist leer. Soll ich …?«

»Wie heißt sie?«

»Wer? Mama?«

»Ja.«

»Susanne.«

»Danke. Und jetzt geh.«

Vor der Mauer seiner partiellen Amnesie stehend, dachte Schaller, dass Susanne bestimmt genau die Frau war, die er gern in diesem Haus angetroffen hätte. Allein für die Tatsache, dass sie einen Engel wie Miriam zur Welt gebracht hatte, liebte er sie.

Auf dem Herd lag ein Brief, auf dem sein Name stand. Er fühlte kein Bedürfnis, ihn zu lesen. Fast wäre es ihm wie Verrat erschienen. Der Brief gehörte ihm nicht, weil der Mann, dem dieser Brief geschrieben worden war, nicht mehr existierte. Außerdem wusste Schaller inzwischen genug über sich selbst, um erraten zu können, was darinstand. Wie schwer es Susanne falle, ihm das anzutun. Wie schön und wichtig die gemeinsame Zeit gewesen sei. Dass sie einen anderen Mann kennengelernt habe, der gerne Bücher las. Dass sie noch einmal von vorn anfangen wolle.

An Miriam konnte Schaller sehen, dass Susanne klüger und schöner sein musste als er selbst. Er hoffte, dass die Zeit, in der sie unter ihm gelitten hatte, nicht allzu lang gewesen war. Immerhin war sie nicht einfach weggelaufen, sondern hatte einen Unfall gebraucht, um ihn zu verlassen. Das nahm er als gutes Zeichen. Er warf den Brief zur Post auf dem Boden im Flur, morgen würde er alles in eine Kiste packen und im Hof verbrennen. Dann legte er sich auf die Matratze und schlief.

Es dauerte Tage, bis Schaller das Ausmaß der Katastrophe begriff. Nach Miriams und Susannes Wegzug hatten die Kunden ihre Autos abgeholt und hier und da noch ein weiteres mitgenommen. Das Werkzeug und ein Großteil der Gerätschaften waren verschwunden, inklusive der Hebebühne, die Schaller für seine Arbeit dringend brauchte. Nach der Plünderung hatten Jugendliche den Hof als Treffpunkt benutzt, bis der Gerichtsvollzieher bei dem Versuch, die traurigen Reste zu pfänden, den Hof mit Ketten verschloss.

Schallers berufliche Existenz hatte aus einem komplizierten Netz von Kontakten bestanden, das am Rande der Legalität gespannt war. Die verschiedenen Geschäfte, Absprachen, offenen Rechnungen, Tausch- und Vermittlungsbeziehungen glichen einem großen Satz Bälle, die er alle zugleich in der Luft gehalten hatte. In dem Augenblick, als sich der Unfall ereignete, waren die Bälle zu Boden gestürzt. Schaller befand sich außerhalb seines eigenen Netzwerks. Er hatte vergessen, wer ihm Geld schuldete und wer auf einen Gefallen wartete.

Eines Morgens wurde er von einem Anzugtypen aus dem Bett geklingelt, der eine Kleinfamilie im Schlepptau hatte. Der Anzugtyp stellte die Kleinfamilie als Kaufinteressenten vor. Schaller hatte nicht einmal gewusst, dass sein Haus zum Verkauf stand. Auch nicht, dass es gar nicht sein Haus war, weil nur Susanne im Grundbuch stand. Er lungerte in T-Shirt und Boxershorts herum, während der Anzugtyp seine Kunden durch die Räume führte und die Vorzüge von Schallers ehemaligem Zuhause pries. Im Grunde hatte Schaller nichts dagegen. Er war in der Lage, den absoluten Nullpunkt zu erkennen, und hatte keine Lust, gegen das Unvermeidliche zu kämpfen.