Wenn Miriam ihn am Telefon fragte, wie es ihm gehe, und er dann behauptete, dass alles okay sei, sagte sie regelmäßig: »Das wird schon, Papa. Hauptsache, du rufst nicht bei Gombrowski an.«
An einen Gombrowski konnte sich Schaller nicht erinnern, aber er wusste, wie man ein Telefonbuch benutzte. Rudolf Gombrowski war Geschäftsführer der Ökologica GmbH und lebte in Unterleuten, keine 15 Kilometer von Niederleusa entfernt. Nach dem Besuch des Maklers setzte sich Schaller ins Taxi, was er als Anfahrt zur Krankengymnastik abrechnen konnte, und stand eine Viertelstunde später vor einem großen Haus mit auffällig blau gedecktem Dach.
Der Mann, der ihm öffnete, war zehn Jahre älter als er selbst und von ähnlicher Statur. Schaller kannte ihn. Er kannte ihn gut. Er hatte sich daran gewöhnt, dass dem Gefühl, etwas oder jemanden zu kennen, zunächst keine weiteren Informationen folgten.
»Da bist du ja«, sagte Gombrowski, als hätte er ein halbes Leben darauf gewartet, dass Schaller eines Tages auf der Schwelle stünde. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging voran über den Flur, während ein riesiger grauer Hund mit faltigem Gesicht die Nase gegen Schallers Gürtelschnalle drückte.
Die Terrasse war mit weißem Marmor belegt, und Schaller dachte, dass es hier bei Regen rutschig sein müsse wie auf einer Schlittschuhbahn. Die Möbel massiv und aus Teak, der Sonnenschirm vom Umfang einer fliegenden Untertasse. Der Blick ging direkt auf einen Teich, der nicht nur zu groß, sondern auch zu nah am Haus gelegen war, so dass er den halben Garten einzunehmen schien. Ein Kranich aus Bronze stand auf einem Bein und starrte in das unterste der drei Becken, wo träge Kois dicht unter der Oberfläche trieben. Gombrowski brachte zwei Flaschen Bier. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und starrten ins Wasser.
»Also.« Gombrowski wischte sich die Oberlippe ab. »Was willst du?«
Der Landwirt saß zurückgelehnt, die Bierflasche auf dem Bauch. Seine fleischigen Wangen ruhten direkt auf der Brust. Es war lachhaft, wie ähnlich er seinem Hund sah, der sich unter dem Tisch niedergelassen hatte und so viel Platz einnahm, dass Schaller die Beine nicht ausstrecken konnte. Schaller beschloss, hoch zu pokern und alles auf eine Karte zu setzen.
Er sagte: »Ein Haus.«
»Mit Hof für deine Autos?«
Falls Gombrowski überrascht war, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Schaller hatte Lust, sich mit der Faust in die flache Hand zu schlagen, gestattete sich aber nicht einmal ein Lächeln.
»Genau.«
Gombrowski überlegte. Er fragte nicht, was mit Schallers Bleibe in Niederleusa passiert war. Mit Sicherheit hatte er von dem Unfall gehört; möglicherweise wusste er mehr darüber als Schaller selbst.
»Gleich hier in Unterleuten«, sagte Gombrowski. »Gehört einem anderen, aber das lässt sich ändern. Der Hof hat Abendsonne.«
Sie tranken ihr Bier aus und sprachen wenig. Nur so viel, dass Schaller beim Abschied auch noch wusste, wo seine Hebebühne abgeblieben war.
Nachdem er sich von Gombrowski verabschiedet hatte, machte er noch einen Abstecher zu einem Mann namens Nikolai, an dessen russischen Akzent er sich dunkel erinnerte, und brach eine Latte vom Zaun, bevor er an der Haustür klingelte. Nach zwei zerschlagenen Lampen und einer umgestürzten Vitrine war man sich einig. Die Hebebühne würde gebracht, sobald Schaller nach Unterleuten gezogen war.
Das war ein gutes Jahr her. Schaller hatte sein neues Anwesen in Besitz genommen. Er hatte den MG für Miriams Geburtstag hergerichtet und Stück für Stück seinen Betrieb wiederaufgebaut. Ein paar der alten Kunden meldeten sich zurück, ein paar neue kamen dazu. Der kleine Hof am Rand von Unterleuten hatte tatsächlich Abendsonne. Gelegentlich fragte sich Schaller, was einen Mann wie Gombrowski veranlassen konnte, ihm ohne Zögern ein Haus zu schenken. So schön die Abendsonne schien – sie erinnerte Schaller daran, dass er vor langer Zeit etwas für Gombrowski getan haben musste, das ebenso schwer wog wie ein ganzer Hof.
Nachdenklich betrachtete Schaller den roten Golf, den er soeben mit wenigen Schlägen von einem potenziellen Gebrauchtwagen in einen Haufen Schrott verwandelt hatte, und beschloss, für heute Feierabend zu machen. Er warf Bierdose und Zigarette fort und startete den Golf, um ihn auf den Friedhof hinter dem Hühnerstall zu fahren. Die Karre röhrte wie ein Sportflugzeug, während die Beifahrertür halb aus den Angeln hing und über den Boden schleifte.
»Gute Nacht«, sagte Schaller, zog den Zündschlüssel ab und schleuderte ihn in hohem Bogen aufs Grundstück der Vogelschützer. Er ging zum Materiallager, schob jeweils einen Arm durch zwei Autoreifen und schleppte seine Last zur Grundstücksgrenze, wo er die Reifen neben den Feuerstellen bereitlegte. Damit waren die Vorkehrungen für die Nacht getroffen, und er konnte sich seiner Abendgestaltung zuwenden. Ein paar Bier trinken und seinen Erinnerungen nachhängen. Noch immer kamen täglich neue hinzu. Die unerwünschten sortierte er aus und warf sie zurück auf die Müllhalde der Amnesie.
»He, hallo! Ist da jemand?«
Er hatte sich auf die Bank gesetzt und war in Träumereien versunken, so dass er zunächst glaubte, die Frauenstimme im Inneren seines Kopfes zu hören. Als er endlich aufblickte, wurde heftig am Tor gerüttelt.
»Hören Sie? Hallo!«
Schaller ging zum Tor und öffnete einen Spalt, darauf gefasst, es sofort wieder zuzuschlagen, falls eine Polizistin davorstünde. Aber die Frau, die er sah, kam mit Sicherheit von keiner Behörde. Amtsschimmelstuten trugen keine kurzen blauen Kleider. Das Haar der Besucherin war blond und zum Pferdeschwanz gebunden. Keine von den Hiesigen, dachte Schaller, mit Sicherheit zugezogen aus der Stadt, höchstwahrscheinlich aus dem Westen. Auch wenn die Vergangenheit nach wie vor eine Wundertüte darstellte – beim Einschätzen der Gegenwart machte ihm niemand etwas vor. Er konnte sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erraten, welches Auto jemand fuhr. Die Frau im blauen Kleid besaß entweder einen Skoda Fabia mit Kindersitz auf der Rückbank und gehörte zu einer der Sparkassenfamilien aus der Neubausiedlung hinter der Kirche. Oder sie fuhr einen Frontera, mit dem sie Pferdeanhänger ziehen konnte, dann wohnte sie in der alten Villa am Rand des Naturschutzgebiets. Für einen Skoda wirkte sie zu jung und zu fröhlich – also Frontera. Erst als Schaller mit dieser Überlegung fertig war, fiel ihm auf, dass eine weitere Person vor dem Tor stand. Ein Mann um die sechzig, BMW Z4 Roadster, keine Frage.
»Entschuldigen Sie die Störung.« Frontera reichte ihm die Hand. Fester Händedruck. Wie Miriam. Noch fester. »Mein Bekannter hier hat ein Problem mit seinem Wagen.«
Der Händedruck des Roadsters war schlaff.
»Ich war gerade losgefahren, da fing er heftig an zu stottern.«
»Zeigen Sie mal die Papiere.«
Während Schaller den Kfz-Schein studierte, runzelte er die Stirn. Mercedes Roadster, nicht BMW, knapp daneben. Die Karre war nagelneu. Da ging nicht einfach so die Einspritzanlage kaputt. »Haben Sie an der Tankstelle in Groß Väter getankt?«
»Wieso?«
»Die verlängern den Sprit mit Wasser.«
Bei diesen Worten begann Frontera hinter dem Rücken des Roadster-Fritzen eine Art Augenbrauengymnastik aufzuführen. Dazu führte sie einen Finger an die Lippen, als wollte sie Schaller zum Schweigen bringen. Also wusste er jetzt, was dem Wagen fehlte.
»Meine letzte Tankfüllung stammt aus Magdeburg.«
Misstrauisch sah sich der Roadster im Hof um, musterte die Scherben am Boden, rings um die Stelle, an welcher der Golf gestanden hatte, registrierte die Feuer, die Autoreifen, sogar die leeren Bierdosen neben der Bank.