»Vielleicht rufe ich einfach den ADAC.«
»Der bringt sie in die nächstgelegene Autowerkstatt«, sagte Frontera. »Und die ist hier.«
Es gehörte zu Schallers Prinzipien, die Angelegenheiten anderer Leute allein danach zu beurteilen, ob sie ihm nutzten oder schadeten. Auf diese Weise vermied er Missverständnisse und konnte zweifelsfrei zwischen richtig und falsch unterscheiden. Dieser Fall war vollkommen klar.
»Beim neuen R 230 SL verabschiedet sich gern mal der Luftmassenmesser«, sagte er. »Ich kann das Teil über Kurier besorgen lassen.«
»Sehen Sie.« Frontera lächelte. »Und zur Not haben wir auch ein nettes Gästezimmer.«
»Schlüssel«, sagte Schaller.
Für die fiktive Reparatur würde er rund 400 Euro berechnen, während er nichts weiter zu tun hatte, als den Tank abzusaugen, mit sauberem Benzin aufzufüllen und zur Sicherheit ein Fläschchen Brennspiritus dazuzugeben.
Frontera sah zufrieden aus. Beim Abschied wies sie zur Grundstücksgrenze hinüber, wo der Qualm der Reifen in Schichten lagerte, auf den nächsten Windstoß wartend, der ihn aufs Nachbargrundstück hinübertragen würde.
»Wer wohnt da?«
»Ein Typ von der Vogelschutzwarte«, sagte Schaller.
»Interessant«, sagte Frontera.
Schon immer hatte Schaller die Auffassung vertreten, dass er lieber zehn Männer zu Feinden hätte als eine einzige Frau.
5 Gombrowski
Es roch nach faulen Eiern, und Fidi veranstaltete einen Höllenlärm. Eigentlich wohnte im Körper der 80-Kilo-Hündin eine sanfte Seele. Gegenüber Besuchern verhielt sie sich freundlich, selbst Kinder durften sie ungestraft an den Ohren ziehen. Meine Fidi will es jedem recht machen, pflegte Gombrowski zu sagen, sie würde noch den Einbrechern helfen, den Fernseher hinauszutragen.
Eine Ausnahme stellte das Tankfahrzeug der Plausitzer Klärwerke dar. Mit den Plausitzer Klärwerken stand Fidi auf Kriegsfuß. Wenn der Mann im grauen Overall den dicken Schlauch übers Grundstück zerrte, um die Abwassergrube hinter dem Haus leerzupumpen, rief Fidi den Notstand aus. Wie besinnungslos rannte sie von Zimmer zu Zimmer, stellte die Vordertatzen auf die Fensterbänke und versuchte, in die Scheiben zu beißen, bis Gombrowski sie am Halsband erwischte. Ihre Krallen kratzten über den Boden, während er sie über den Flur bis zum Gästeklo zerrte und dort einsperrte. Jetzt klang Fidis tiefe Stimme dumpf, als käme sie direkt aus der Unterwelt. Die großen Pfoten bearbeiteten die geschlossene Tür. Elena würde wegen der Kratzspuren schimpfen.
Seufzend wandte Gombrowski sich ab, holte einen Lappen aus der Küche und machte sich daran, die Speichelfäden zu beseitigen, die Fidi auf den Fensterbänken hinterlassen hatte. Seine Skatbrüder nannten ihn einen Pantoffelhelden, aber das störte ihn nicht. Genau wie Fidi war er stets bemüht, es allen recht zu machen. Anerkannt wurde das nicht. Heutzutage betrachteten die Leute die Welt als Selbstbedienungsladen. Sie kamen in die Ökologica, wenn sie etwas von ihm wollten, und begannen zu murren, wenn er den Wunsch nicht erfüllen konnte. Zu Hause war es nicht anders. Sein Leben lang hatte er gearbeitet, um Frau und Tochter eine angenehme Existenz zu ermöglichen. Zum Dank gab Elena ihm das Gefühl, kein guter Ehemann zu sein. Und Püppi hatte nur darauf gewartet, dass die Mauer fiel, um »das verfluchte Dreckskaff Unterleuten« endlich verlassen zu können. Sie lebte in Freiburg, wo sie auf Gombrowskis Kosten an der »von euch am weitesten entfernten Universität der Republik« ein ebenso langwieriges wie hochnäsiges Studium durchgeführt hatte. Weil es mit ihrem Doktortitel in Klugscheißerei nur zu einer halben Assistentenstelle reichte, hatte Gombrowski ihr eine Wohnung gekauft. Trotz allem besaß sie die Dreistigkeit, es peinlich zu finden, dass das Geld, von dem sie lebte, mit Mähdreschern und Melkmaschinen verdient wurde.
Das Feierabendbier, das sich Gombrowski in der Küche öffnete, schmeckte nach Kloake. Irgendwo musste ein Fenster offen stehen und den schwefeligen Fäkaliengestank ins Haus lassen. Nach der Wende hatte sich Gombrowski für den Bau einer Kanalisation eingesetzt. Ein aussichtsloses Unterfangen, weil der Betrieb von Sammelgruben billiger war und es zur kleingeistigen Mentalität der Unterleutner gehörte, jede Veränderung überflüssig zu finden, vor allem, wenn sie Geld kostete. Immerhin war es dem Bürgermeister mit Gombrowskis Unterstützung gelungen, den Bau einer Brunnenanlage durchzusetzen, die Unterleuten mit Trinkwasser versorgte. Was aus den Wasserhähnen floss, war nach modernster Technik aufbereitet. Was in Abflüssen und Toiletten verschwand, holte einmal wöchentlich der Tankwagen ab.
Fidis Gebell steigerte sich zu einem heiseren Jaulen und verstummte. Anscheinend hatte der Mann von den Klärwerken seine Arbeit beendet, den Schlauch eingerollt und sein Tankfahrzeug zum nächsten Kunden gesteuert.
In der plötzlichen Stille vernahm Gombrowski ein Klopfen. Es kam vom Flur.
»Rudolf«, rief eine Frauenstimme. »Rudolf Gombrowski, Teufel noch mal.«
Hilde Kessler war so klein, dass nur die obere Hälfte ihres Kopfs vor der Scheibe der Eingangstür zu sehen war. Umso rührender wirkte der Mullverband, der Stirn und Augenbrauen verdeckte. Mit beiden Händen rüttelte sie am Knauf der Tür, was ihre Frisur in heftige Bewegung versetzte. Als Gombrowski öffnete, wäre sie fast gestürzt.
»Bist du verrückt geworden!« An ihm vorbei strauchelte Hilde in den Flur. »Du kannst mich doch nicht draußen stehen lassen!«
»Ich hab die Klingel nicht gehört. Wegen Fidi.«
»Scheiß Köter.« Sie weinte fast.
»Tut mir leid, Hilde. Komm her.«
Wenn er Hilde umarmen wollte, musste er in die Knie gehen. Im Garderobenspiegel konnte er das seltsame Bild betrachten. Elena behauptete, dass er Fidi ähnlich sehe, und er musste zugeben, dass das stimmte. Er war groß, weich und schwer. Alles an ihm hing herunter, Tränensäcke, Wangen, Schultern und Arme, was ihm ein schuldbewusstes Aussehen verlieh. Auch Fidi wirkte immer schuldbewusst. Selbst ihr Futter schien sie nur mit schlechtem Gewissen zu verzehren.
Hilde hingegen war klein, zierlich und sprungbereit wie eine Katze. Wer sie kannte, hatte Respekt vor ihr, trotz ihrer geringen Körpergröße. Sie besaß einen scharfen Verstand und eine gewisse Härte. Es gab nur eine Sache, die sie nicht ertrug, und das waren Aufenthalte unter freiem Himmel. Das Versprechen, ihn jeden Donnerstag zu besuchen, hatte Gombrowski ihr abgerungen, damit sie wenigstens einmal in der Woche an die frische Luft kam. Da sie gleich nebenan wohnte, musste sie nur durch die Gärten gehen, um das Haus der Gombrowskis zu erreichen. Selbst dieser kleine Spaziergang stellte eine Herausforderung für sie dar. Ihr Mann Erik war von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden. Obwohl das Unglück fast zwanzig Jahre zurücklag, hatte Hilde ihre Angst vor dem offenen Himmel bis heute nicht verloren.
An den tragischen Tag erinnerte sich Gombrowski in allen Einzelheiten. Auch das Datum hatte sich ihm eingeprägt: 3. November 1991. Gegen siebzehn Uhr war ein apokalyptisches Gewitter losgebrochen. Die Entladung hatte direkt über Unterleuten stattgefunden. Blitz und Donner fielen im selben Augenblick zusammen. Der Himmel war grell erleuchtet, die Donner krachten, als bestünde die Luft aus Holz und würde von einem Wahnsinnigen mit einer gigantischen Axt in tausend Stücke gehackt.
Es war die Zeit, in der Gombrowski um die Rettung der LPG »Gute Hoffnung« kämpfte. Das neue Landwirtschaftsanpassungsgesetz der BRD sah vor, dass ehemalige DDR-Betriebe, die nicht bis Ende des Jahres zu einer neuen Rechtsform gefunden hatten, als aufgelöst galten. Hildes Mann Erik gehörte gemeinsam mit dem ewigen Querulanten Kron zu einer kleinen Gruppe, die sich der Gründung der »Ökologica GmbH« unter Gombrowskis Geschäftsführung widersetzte. Als das Gewitter niederging, befanden sich nur Hilde und er im Vorstandsbüro. Gombrowski erinnerte sich, wie sie über das Gelände rannten, Ställe und Getreidespeicher verriegelten, die Blitzableiter an den Scheunen überprüften und die Fensterläden des Verwaltungsgebäudes schlossen, während der Himmel bereits in Flammen stand. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis endlich Regen einsetzte. Eine Sintflut, die den Schweinestall unter Wasser setzte und draußen auf den Feldern die Heuernte verdarb. Der Strom fiel aus, das Telefon blieb stundenlang gestört. So kam es, dass sie erst am späten Abend von Eriks Tod erfuhren. Er hatte sich während des Gewitters auf einer Waldlichtung unweit des Dorfs aufgehalten. Kron war bei ihm gewesen und mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden.