Seit diesem Tag verließ Hilde das Haus nicht mehr. Lange hatte Gombrowski versucht, ihr die Angst zu nehmen, hatte Spaziergänge vorgeschlagen, kleine Übungsausflüge, gemeinsame Aufenthalte im Garten. Es war sein Ehrgeiz gewesen, ihr das Vertrauen in den Himmel zurückzugeben. Erreicht hatte er nicht mehr als die bis heute gültige Vereinbarung, dass Hilde ihn einmal pro Woche besuchte. Am Ende dieser Expedition vor verschlossener Tür zu stehen, mit nichts als einer Menge Sommerluft über sich, gehörte zu ihren schlimmsten Albträumen.
»Es tut mir leid«, wiederholte Gombrowski.
Hilde weinte ein paar stumme Tränen, die schwarze Wimperntusche auf Gombrowskis kariertem Hemd hinterließen. Er richtete sie auf, schob sie ein Stück von sich weg und brachte sie ins Gleichgewicht, als sortierte er die schlaffen Glieder einer Puppe. Zum Schluss strich er ihr mit seinen großen Händen das Haar glatt, sorgfältig darauf achtend, den Schläfenverband nicht zu berühren. Dann ließ er sie los, um zu prüfen, ob sie selbstständig stand.
»Komm«, sagte er. »Wir setzen uns auf die Terrasse.«
Der Schwefelgestank hatte sich verzogen. Sanft plätscherte Wasser durch die drei Becken des Gartenteichs. Eine Trauerweide badete die Spitzen ihrer herabhängenden Zweige. Darunter schwammen die kreisrunden Blätter einer Seerose. Zwischen die Dotterblumen am Rand hatte Gombrowski vier dicke Keramikfrösche gesetzt, deren grimmiges Glotzen ihn amüsierte. Am meisten aber liebte er die acht Kois, die reglos im Wasser standen und sich von der Sonne bescheinen ließen. Bereits als kleine Fische hatte er sie für einen beträchtlichen Preis gekauft. Mittlerweile waren sie über fünfzig Zentimeter lang und ein kleines Vermögen wert. Elena hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kois vor Reihern zu schützen, weshalb sie im Sommer um fünf Uhr morgens aufstand und sich mit einer Tasse Tee an den Rand des Gartenteichs setzte. Auch wenn Gombrowski wusste, dass dieser Dienst zum Selbstaufopferungsprogramm gehörte, mit dessen Hilfe Elena sein schlechtes Gewissen Männchen machen ließ wie einen dressierten Pudel, war er doch froh, dass ihm in all den Jahren kein einziger Fisch abhandengekommen war.
Obwohl Hilde nie ein lobendes Wort über den Gartenteich verloren hatte, war er sicher, dass auch sie den Frieden der Anlage genoss. Den riesigen Sonnenschirm hatte er ihretwegen installiert. Wenn er sie mit dem Rücken zum Haus platzierte, fühlte sie sich geschützt und hatte optimale Aussicht in den Garten. Trotz des dicken Kissens, das er ihr unterschob, wirkte sie auf dem Gartenstuhl klein wie ein Kind.
»Was ist passiert?«, fragte Gombrowski und zeigte auf den Kopfverband.
»Hast du was zu trinken?«
Er nickte, ging ins Haus und schloss die Terrassentür hinter sich. Durch die Scheibe sah er, wie Hilde ihr Schminkzeug hervorholte. Das starke Make-up, das ihr Gesicht wie eine Maske verdeckte, trug sie erst seit Eriks Tod.
In der Küche nahm er den halbtrockenen Sekt aus dem Kühlschrank, den er jede Woche für Hilde kaufte, obwohl sie nie mehr als ein halbes Glas davon trank. Dazu gab es einen Teller mit Marmeladenkeksen, von denen Hilde einen und Gombrowski keinen essen würde, bevor sie später der Hund bekam. Anschließend würde er Hilde zu ihrem Haus hinüberbegleiten, rechtzeitig bevor Elena von ihrem Doppelkopf-Nachmittag zurückkehrte. Auf diese Weise war sichergestellt, dass sich die beiden Frauen nicht begegneten.
Mit Sekt und Keksen ging er zurück über den Flur und ließ Fidi aus dem Gästeklo. Solange Hilde zu Besuch war, würde der Hund im Haus bleiben müssen. Hilde mochte Fidi nicht besonders, sie war ein Katzenmensch. Mit den Jahren hatte sich ihr Haus in ein Auffanglager für unglückliche Stubentiger verwandelt, die genau wie Hilde nicht ins Freie gingen. Rund zwanzig Katzen saßen auf Sofa- und Sessellehnen, schliefen zu dritt im Wäschekorb, gingen in den Regalen spazieren, aalten sich unter den Fenstern im Sonnenlicht. Die meisten von ihnen waren struppig und mager, manche hinkten, einigen fehlte der halbe Schwanz oder ein Ohr. Es stank wie im Raubtierkäfig. Jeder im Dorf, der eine verletzte, kranke, streunende Katze fand, brachte sie zu Hilde. Nicht nur ihre Witwenrente, auch ein Großteil von Gombrowskis monatlichen Zuwendungen flossen in Futter und Tierarztrechnungen.
Während er Sekt und Kekse auf den Tisch stellte, verstaute Hilde ihr Schminkzeug in der Handtasche und wandte Gombrowski ihr frisch renoviertes Gesicht zu.
»Kron hat mich geschlagen«, sagte sie und nippte an ihrem Glas. »Wegen einer kleinen Katze für Krönchen.«
Wenn jemals ein Mann ein weibliches Wesen vergöttert hatte, dann Kron seine kleine Enkeltochter. Krönchen war fünf Jahre alt, eine blonde Miniaturschönheit, die bereits die Koketterie einer Diva besaß. Weder Eltern noch Großvater sahen sich in der Lage, sie von der Durchsetzung ihres Willens abzuhalten. Regelmäßig entwischte die Kleine zu Hause, lief quer durchs Dorf, kletterte an Hildes Rosengittern hoch und trommelte so lange gegen das Küchenfenster, bis sie eingelassen wurde, um mit den Katzen zu spielen.
»Seit Moni Junge hat, kommt sie täglich. Total aus dem Häuschen. Sie wünschte sich eins der Kätzchen zum Geburtstag, ein ganz bestimmtes, mit silbernem Fell.«
»Da war ihre Mama sicher begeistert.«
»Du kennst Krönchen. Sie hat Terror gemacht, bis Kathrin persönlich bei mir auf der Matte stand und fragte, was die Katze kostet.«
»Und dann?«
»Dann saß das Kätzchen auf dem Geburtstagstisch. Große Freude. Drei Tage später lag es morgens tot auf dem Teppich.«
»Sterben sie schnell in dem Alter?«
Hilde hob die Achseln.
»Eigentlich nicht. Aber es sind halt Lebewesen. Wie wir alle, nicht wahr? Es sollte besser Sterbewesen heißen.«
Gombrowski schüttelte den Kopf. Hilde besaß eine ganze Sammlung von Sprüchen, die er nicht mochte.
»Jedenfalls schrie Krönchen Zeter und Mordio. Völlig verzweifelt rief Kathrin bei mir an und bat um ein zweites Kätzchen. Es gibt noch ein weiteres in dieser Farbe. Aber das ist schon versprochen. Ein kleiner Junge aus Mantel soll es bekommen.«
»Und dann hat Kron sich eingeschaltet.«
»Er stand mittags vor meiner Tür. Hat einfach die Tür aufgestoßen und ist an mir vorbei ins Haus gehumpelt.«
»Drecksack.«
»Wie er ins Wohnzimmer kommt, sitzt das silberne Kätzchen mitten auf dem Teppich. Direkt vor ihm.«
»Und er?«
»Pflückt das arme Tier vom Boden und schwenkt es durch die Luft. Ich dachte, er bricht der kleinen Katze das Genick. Ich war außer mir.«
»Arme Hilde.«
Für einen Augenblick umschloss Gombrowski ihren Oberarm mit den Fingern. Wie ein trockener Zweig. Hilde schüttelte seine Hand ab.
»Auf dem Couchtisch lag eine Schere. Ich wusste nicht, wie ich mich sonst wehren sollte. Als ich danach griff, hat er mir seine Krücke vor den Kopf gehauen und ist weggelaufen.«
»Er hat dich da liegen lassen?«
»Einen Krankenwagen hat er mir geschickt.« Wieder berührte Hilde den Verband. »Mit fünf Stichen genäht.«
Ein paar Sekunden schwiegen sie. Fidi pfiff einen hohen Ton und stieß die Nase gegen die Scheibe. Eine Amsel badete plätschernd im flachen Wasser am Rand des Teichs. Irgendwo winselte eine Motorsäge.
»Das tut man nicht«, sagte Gombrowski. »Man schlägt keine Frauen.«
Hilde hob ihre aufgemalten Augenbrauen.
»Ach ja, Gombrowski? Ist das so?«