Er beeilte sich mit den nächsten Sätzen.
»Die Katze war nur ein Vorwand. Kron hat sich an dir vergriffen, weil er mich treffen wollte.«
»Aber warum? Ich meine: Warum jetzt?«
Die Amsel beendete ihr Bad, flog heran und setzte sich auf einen Pfosten des Terrassengeländers, um Fidi hinter der Scheibe zu beschimpfen. Nachdenklich streichelte Gombrowski Hildes Hand.
Dass Kron ihn hasste, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Gombrowski und Kron gehörten zu der kleinen Anzahl Menschen, die in Unterleuten geboren waren und bis heute hier lebten. Da Kron sieben Jahre älter war, hatte Gombrowski in seiner Kindheit wenig mit ihm zu tun gehabt. Kron rauchte Zigaretten, während sich Gombrowski noch für Lollis interessierte. Wenn Kron einen Fußball kickte, musste Gombrowski zur Seite springen, damit ihn der scharfe Schuss nicht von den Beinen holte. Irgendwann fuhr Kron einen Simson Roller, was ihn endgültig in unerreichbare Sphären rückte. Außer dem Alter stand auch die Herkunft zwischen ihnen. Kron stammte aus einer Familie von Kleinbauern, die seit Generationen ihren mageren Lebensunterhalt aus der kargen Erde kratzte. Gombrowskis Vater hingegen bewirtschaftete den Familienbesitz – 250 Hektar Land.
In der Vergangenheit hatte das Gut der Gombrowskis manche Höhen und Tiefen erlebt, aber irgendwie war es der Familie immer gelungen, ihre Wirtschaft am Laufen zu halten. Selbst während der harten Kriegsjahre bis 1945 hatten die Felder niemals brachgelegen. Nach der Kapitulation allerdings begann eine Krise, die alles bisher Dagewesene übertraf. Plündernd zog die Rote Armee durchs Land; auch Unterleuten lag auf ihrem Weg. Den marodierenden Soldaten fielen Viehbestand, Maschinen und Arbeiter zum Opfer. In den folgenden Jahren fehlte es an allem – Geld, Saatgut, Pferden, Dünger, Werkzeug, Männern, Zuversicht. In dieser Zeit wurde Gombrowski geboren. Eine seiner ersten Erinnerungen bestand darin, dass er einer Katze beim Vertilgen einer Maus zusah und dabei ein Hungergefühl verspürte.
Als Gombrowskis Vater glaubte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, nahm die Kollektivierung ihren Anfang. Er war jetzt nicht mehr Landwirt, sondern Klassenfeind. Ringsum wurden Ländereien enteignet und aufgeteilt, bis die Wirtschaften zu klein wurden, um mehr als ihre Besitzer ernähren zu können. Erfahrene Bauern verließen das Land, ihre Höfe wurden von Flüchtlingen in Besitz genommen, die nicht notwendig Landwirte waren und sich mit den hiesigen Bedingungen nicht auskannten.
Aber Gombrowskis Vater gab nicht auf. Er verfügte über ein Kapital, das ihm keiner nehmen konnte: gute Beziehungen in die umliegenden Dörfer. Als in Plausitz die erste Bodenkommission der Region gegründet wurde, trat er sofort bei. Nicht, um die Bodenreform voranzutreiben, sondern um zu verhindern, dass sein eigener Betrieb verstaatlicht wurde. Er kannte alle, die in der Kommission saßen, und alle kannten ihn. Kein Treffen verging, ohne dass er Gelegenheit fand, seine Lieblingssätze zu äußern: »Auch Kommunisten wollen essen«, »Wir arbeiten mit Jahreszeiten, nicht mit Jahresplänen«, und »Kein Mensch braucht eine Partei, die nicht weiß, wie man es regnen lässt«.
Niemand widersprach. Die kleineren Bauern waren auf den alten Gombrowski angewiesen, der sich immer bereitfand, Saatgut, Maschinen oder Arbeitskräfte zu verleihen, wenn jemand in Not geriet – und in Not gerieten alle, und zwar ständig.
Abgesehen davon hatte er recht. Jeder Landbewohner wusste von Anfang an, dass die DDR ein schwachsinniges System darstellte. Die Partei, nach deren Pfeife man plötzlich zu tanzen hatte, war aus den Städten hervorgegangen. Ihr Führungspersonal, in Moskau geschult, verstand wenig vom Landleben und noch weniger von der Landwirtschaft. Mangelnde Kenntnisse versuchten Ulbricht und Konsorten durch die Anwendung marxistisch-leninistischer Theorien zu kompensieren. Aber die Natur zeigte sich wenig empfänglich für kommunistische Weltbilder. Sie bestand auf ihren eigenen Gesetzen. Über Generationen hinweg hatten die Bauern gelernt, dem sandigen Boden seine Früchte abzuringen. Sie lebten auf dem Land, mit dem Land und für das Land. Mit politischen Parolen hatten sie nichts am Hut. Der alte Gombrowski war nicht überall beliebt. Aber wenn seine Wirtschaft im Rahmen einer von Volltrotteln geführten LPG zugrunde gerichtet werden sollte, dann hielt man lieber zu ihm als zu Polit-Schnöseln aus den Städten, die Weizen nicht von Gerste unterscheiden konnten.
Bis 1960 gelang es dem Alten, sich im Sattel zu halten. Sein Betrieb brachte Erträge, und die DDR hatte jede Menge Flüchtlinge sowie eine halbe Hauptstadt zu ernähren. Er sah Neubauern kommen und wieder gehen. Er sah alte Gutshäuser, die abgerissen wurden, obwohl es überall an Wohnraum mangelte. Er sah, wie Ländereien zerschlagen und ihre Besitzer vertrieben wurden. Unterleuten leerte sich, Familie Gombrowski blieb.
Bis der sozialistische Frühling über das Land hinwegrollte. Weil die kollektivierten Betriebe nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten, beschloss die Partei, Feuer mit Öl zu löschen und die flächendeckende Zwangskollektivierung einzuleiten. Berlin schickte Werbebrigaden, welche die entsprechende Überzeugungsarbeit leisten sollten. Bunt zusammengewürfelte Haufen fielen in den Dörfern ein, Polizei, Stasi, agitierte Arbeiter und Studenten, allesamt linientreu und krawallbereit. Drei Tage lang parkte vor dem Haus der Gombrowskis ein Lautsprecherwagen, der Parolen zu den Fenstern hinaufplärrte. Eines Nachts splitterten die Fenster im Erdgeschoss.
Der junge Gombrowski war gerade dreizehn geworden. Vom Lärm erwacht, rannte er im Schlafanzug auf den Balkon im ersten Stock. Was er sah, schien einem Albtraum zu entstammen. Auf dem Betriebsgelände brannte ein Kornspeicher, das Feuer tauchte die Szenerie in flackerndes Licht. Mehrere Männer waren über den Zaun geklettert und bis zum Haus der Gombrowskis vorgedrungen. Sie trugen Knüppel und Eisenstangen. Ein Topf Geranien flog durch die Luft. Dann splitterte das nächste Fenster. Starr vor Angst beugte sich der junge Gombrowski über das Geländer und blickte direkt in das wilde Gesicht von Kron, der eine Dachlatte schwang.
Bis heute erinnerte sich Gombrowski an das Geräusch der berstenden Fenster und an Krons irren Blick. Er konnte die gebrüllten Parolen hören, »Junkerland in Bauernhand«, während Kron auf die Scheiben seines Elternhauses eindrosch, bis kein Splitter mehr im Rahmen steckte. Das Feuer im Kornspeicher wuchs zu einer turmhohen Flammensäule, deren Funken bis zu den Sternen flogen. Der Schreck fuhr dem Dreizehnjährigen in die Knochen und blieb dort. In Krons Augen hatte er blanken Hass gesehen, den er nicht verstand. Wohl aber ahnte er, dass er eines Tages in der Lage sein würde, ihn zu erwidern.
Hinter der Terrassentür begann Fidi zu winseln. Gombrowski rief sie zu Ordnung und schüttelte den Kopf, um die Echos aus der Vergangenheit loszuwerden. Schwer zu glauben, dass die Feindschaft zwischen Kron und ihm tatsächlich ein halbes Jahrhundert alt war, älter als die Ehe mit Elena, älter als die Freundschaft zu Hilde. Gombrowski hatte diese Feindschaft nie gewollt, und doch schien sie unabänderlich wie ein Naturgesetz. Auf jahrelange Phasen des Waffenstillstands konnte von Krons Seite urplötzlich die nächste Attacke erfolgen. Nicht auszuschließen, dass Hildes Kopfverband den Auftakt zu einer neuen Reihe von Kampfhandlungen darstellte.
Hilde zog ihren Arm weg, um zu verhindern, dass Gombrowski ihr ein Loch in den Handrücken streichelte. Er wusste nicht, wie lange er stumm gesessen hatte. Der Teich gab plätschernde Geräusche von sich. Drei Kois zogen ihre bunten Körper dicht unter der Oberfläche entlang. Als Gombrowski einen Schluck Bier nehmen wollte, war die Flasche leer. Misstrauisch sah Hilde ihn von der Seite an.
»Verschweigst du mir etwas?«
»Wie kommst du darauf?«
»Was hat Kron auf den Plan gerufen?«
»Ehrlich, ich weiß es nicht.«
»Und worum soll es heute Abend gehen?«
»Auf der Dorfversammlung? Keine Ahnung.«
»Ach, komm.« Hilde lachte, was selten vorkam. »Du kannst mir nicht erzählen, dass Arne dich nicht informiert hat.«