Gerhard schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, auf diese Weise darüber zu reden. Tatsache war, dass von der geplanten Mauer seit Monaten nicht mehr als ein metertiefer Schacht entlang der Grenze zu Schallers Grundstück existierte. In Anflügen von schwarzem Humor nannten Gerhard und Jule die brachliegende Baustelle ihren Schützengraben. Auf dem Wall entlang des Grabens wuchsen bereits Gras und Robiniensprösslinge. Die Mauer hätte ihnen den Anblick von Schallers zugemülltem Hof ersparen und die Privatheit des Gartens wiederherstellen sollen. Um effektiven Sichtschutz zu bieten, musste sie 2,40 Meter hoch sein. Das Bauamt war der Meinung, dass zwei Meter genügten. Obwohl Gerhard durch seinen neuen Job beim Vogelschutzbund über gute Beziehungen zu den Behörden verfügte, war es ihm nicht gelungen, das Verfahren zu beschleunigen.
»Gegen den Gestank würde die Mauer sowieso nicht helfen«, sagte er leise.
In den vergangenen vier Tagen hatte sich der Rauch im gesamten Garten verteilt. Die Schwaden zogen über den Schützengraben, hingen in den Himbeersträuchern, fuhren in kleinen Wirbeln durch die drei jungen Tannen, die mit der Zeit zu einem Nadelwald anwachsen würden, weil Jule jedes Jahr einen Weihnachtsbaum im Topf kaufte und ihn im Frühling in die Ecke hinter dem Geräteschuppen pflanzte. Der Rauch stieg sogar bis in die Kronen der Robinien, die das Dach um mehrere Meter überragten. Ihr kleines Paradies hatte sich mit giftigen Dämpfen vollgesogen. Trotz geschlossener Fenster und Türen war der Gestank auch in die Räume gedrungen. Es gab Momente, in denen Gerhard zu wünschen begann, sie hätten dieses Haus nicht gekauft und sich stattdessen eine einsame Jagdhütte im Wald gesucht, auf einer Lichtung, kühl, gut belüftet, ohne Nachbarn. Menschen brauchten Abstand voneinander. Gerhard hatte lange genug in Berlin gelebt, um das zu wissen. Nicht gewusst hatte er, dass selbst ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte.
»Du weißt doch, wie die Leute hier sind. In der DDR gab es eben keine Umweltbewegung. Jeder verbrennt seinen Müll, wie es ihm passt.«
»Was der da drüben macht, ist keine Müllverbrennung«, unterbrach ihn Jule.
»Jeder bohrt Brunnen hinterm Haus, zapft das Grundwasser an, baut Schuppen im Außenbereich.« Gerhard versuchte die Flucht ins Allgemeine. »Niemand will einsehen, dass er die Unterleutner Heide nicht als Galoppstrecke für Pferde oder als Motocrossbahn benutzen kann. Dass dort Kampfläufer brüten, interessiert die Leute überhaupt nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass der Naturschutz …«
»Es geht hier ausnahmsweise nicht um deine Kampfläufer!«, rief Jule. »Es geht darum, dass das Tier meine Tochter vergiftet!«
Weil Jule die Stimme hob, ging Sophies Quengeln erneut in Geschrei über, woraufhin Jule aufsprang und im Zimmer hin und her zu wandern begann. Gerhard konnte es nicht leiden, wenn sie »meine Tochter« sagte. Sophie war genauso seine Tochter, auch wenn er noch immer nicht begriff, wie es ihm gelungen war, etwas so Reizendes hervorzubringen. Obwohl die Kleine in vielerlei Hinsicht sein Gegenteil verkörperte, schaffte sie es trotzdem, ihm ähnlich zu sehen. Sie war eine winzige weibliche Variante seiner selbst.
»Soll ich sie mal nehmen?«
Statt zu antworten, drückte Jule das Baby noch fester an die Brust, als könnte Gerhard versuchen, es zu entführen. Auch ohne Schallers Giftfeuer war Jule in letzter Zeit schwierig gewesen. Seit Sophies Geburt vor knapp sechs Monaten litt sie unter einer Art nervöser Geistesabwesenheit. Wenn Gerhard danach fragte, antwortete sie stets, es gehe ihr gut. Dabei stand sie offensichtlich neben sich, hörte manchmal nicht, wenn er sie ansprach, schaute erst auf, wenn er lauter wurde, und blickte ihn an wie einen Fremden. Nicht, dass er ihr das übel genommen hätte. Das Stillen brachte es mit sich, dass Jule unter massivem Schlafentzug litt. In Lagern der CIA wurden Häftlinge gefoltert, indem man sie in unregelmäßigen Abständen weckte. Außerdem hatte Gerhard im Internet gelesen, dass Väter nicht selten nach der Geburt eines Babys von den Müttern zurückgewiesen würden und dass sich dieses Syndrom nach einiger Zeit von alleine gebe. An dieser These hielt er sich fest. Eines Tages würde Jule mit Stillen aufhören und wieder wie früher werden. Sie würde mit unbekümmertem Lachen abstreiten, überhaupt irgendwie »komisch« gewesen zu sein. Auf diesen Augenblick freute er sich. Gerhard liebte Sophie abgöttisch, aber er war nicht bereit, seine Frau an das Baby zu verlieren.
»Lass uns einen Ausflug machen«, sagte Gerhard. »Wir packen Sophie ein und fahren zum See. Einfach raus hier, an die frische Luft.«
»Am See sind zu viele Mücken.«
»Dann eben woandershin.«
»Und wohin?«
»Ist doch egal! In den Wald! Spazieren!«
»Auf den unbefestigten Wegen kann man den Kinderwagen nicht schieben.«
»Herrgott, Jule!«
Sie kam zurück zur Couch, setzte sich und hob das T-Shirt, um Sophie die Brust zu geben. Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein, eine Stille, die in den Ohren brauste. Gerhard betrachtete Sophies winziges Gesicht, die zornige Miene beim Milchtrinken, die an den Wangen geballten Fäuste, mit der ganzen Kraft eines kleinen Körpers ans Leben geklammert. Einige Strähnen von Jules langen Haaren hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen über die nackten Beine des Babys. Jule weinte immer noch lautlos. Gelegentlich landete eine Träne auf Sophies Rücken. Der Anblick schnitt Gerhard ins Herz.
»Jule«, sagte er sanft. »Ich lasse euch ein paar Minuten allein, verschwinde in der Küche und mache uns ein schönes Ginger Ale. Einverstanden?«
Jule nickte, ohne den Kopf zu heben. Gerhard küsste sie auf den Scheitel und stand auf. Wenn sich eine Dreißigjährige entschied, ihr Leben mit einem Fünfzigjährigen zu teilen, sollte sich der Fünfzigjährige wenigstens Mühe geben.
Auf dem Weg in die Küche nahm er sich ein paar Sekunden, um das Federn der Dielen unter seinen Füßen zu genießen. Das alte Kiefernholz gab ein sattes Knarzen von sich, als hätte es hundert Jahre lang die Geräusche sämtlicher Schritte in sich bewahrt. Die Erinnerung an seinen ersten Besuch in diesem Haus stand Gerhard deutlich vor Augen. Er hatte den Flur betreten, Jule und den Makler hinter sich, und wollte gerade die Tür zum Wohnzimmer öffnen, als er plötzlich stehen blieb.
»Was ist«, hatte der Makler gefragt, »geht die Tür nicht auf?«
Gerhard hatte die Türklinke angestarrt, ein schönes Stück aus Messing, geschwungen und mit einer schneckenförmigen Verzierung am Ende. Die Klinke musste weit über hundert Jahre alt sein, und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. Als die Klinke an der Tür befestigt wurde, hatten die Leute, die das bezahlten, noch nichts von zwei bevorstehenden Weltkriegen gewusst. Sie hatten sich gefreut, ein frisch gebautes Haus mit allem Komfort zu beziehen. Der Türklinke hatten sie vermutlich keine besondere Beachtung geschenkt. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass die Klinke ihre Besitzer spielend überleben würde. Für sämtliche Bewohner des Hauses war der Augenblick gekommen, in dem sie diese Klinke zum allerletzten Mal berührten. Plötzlich wollte Gerhard, dass es ihm genauso erginge. Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste. Einen Neubau, in dem alles jünger war als er selbst, hätte er nicht ertragen. Er wollte kein Haus, in dem jede Scheuerleiste seinem persönlichen Gestaltungswillen folgte. Wo die Gegenstände seine Herrschaft anerkennen mussten, weil er für ihre Existenz verantwortlich war. Er wollte der Welt nichts Neues hinzufügen, sondern das Vorgefundene erhalten. Denn darin bestand die heilige Aufgabe dieser hektischen Epoche: das Bestehende gegen die psychotischen Kräfte eines überdrehten Fortschritts zu verteidigen. Als der Makler an ihm vorbeigriff, um die Wohnzimmertür zu öffnen, war Gerhards Entscheidung bereits gefallen.
Er betrat die Küche, nahm die Kanne mit Ingwer-Sud aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Anrichte. Die Aussicht vom Küchenfenster ging Richtung Westen. Weil ihr Anwesen das letzte im Dorf war, traf der Blick kein weiteres Haus, keinen Zaun, auch keinen Strommast oder Hochstand, überhaupt kein Anzeichen menschlicher Zivilisation, abgesehen von der Straße, die eine leichte Anhöhe hinauflief, bevor sie, schon einen guten Kilometer entfernt, im Wald verschwand. Man konnte minutenlang aus dem Fenster schauen, ohne dass der Wald ein Auto ausspuckte und auf das Dorf zurollen ließ. Am meisten liebte Gerhard die langen Reihen von Birnbäumen zu beiden Seiten der Fahrbahn. Wie man es in der Gegend häufig sah, wuchsen die Stämme nicht senkrecht, sondern nach links und rechts den Feldern zugeneigt. »Aufgeklappte Alleen« hatte Jule das Phänomen auf ihrer ersten Fahrt nach Unterleuten genannt. Bis heute hatte ihnen niemand die Frage beantworten können, ob die Bäume von der sich aufwölbenden Asphaltdecke nach außen gedrückt wurden oder ob man sie absichtlich so gepflanzt hatte, damit weniger Früchte auf die Fahrbahn fielen.