»Ist aber so.«
»Und das wundert dich nicht?«
»Was meinst du?«
»Überleg doch mal, Gombrowski. Wenn das«, sie berührte ein weiteres Mal den Verband an ihrer Stirn, »auf dich gemünzt war, braucht Kron einen Grund. Vielleicht geht etwas vor.«
»Dann weiß Kron mehr als ich.«
»Wäre möglich. Er muss es ja nicht von Arne haben. Es gibt andere Kanäle.«
»Und ob. Was Kanäle angeht, ist das hier schlimmer als Venedig.« Gombrowski presste die Handballen auf die Augen, wobei er sein weiches Gesicht in Falten zusammenschob. »Manchmal habe ich Lust, die Brocken hinzuschmeißen. Soll Betty den Laden übernehmen und sich mit dem ganzen Mist herumschlagen.«
»Das meinst du nicht ernst.«
Als er die Augen freigab, sah er bunte Kreise, die sich ineinanderdrehten. Dahinter erschien Hilde, die ihn besorgt musterte. Es war normal, auf Unterleuten zu schimpfen. Alle schimpften auf Unterleuten. Aber manchmal bekam Gombrowskis Überdruss eine andere Qualität. Er glaubte dann, den Angriffen, die ihn von allen Seiten trafen, nichts mehr entgegensetzen zu können. Die Milchpreise waren im Keller, die Agrarsubventionen sollten gekürzt werden, und weil der Staat seit der Schuldenkrise Geld brauchte, sorgte das Finanzministerium mithilfe der Treuhand-Nachfolgeorganisation dafür, dass die Preise für landwirtschaftliche Flächen sukzessive erhöht wurden. Bald würde sich die Ökologica die Pacht ihrer Felder nicht mehr leisten können. Dazu kamen noch die Spinner aus dem Westen. Die einen spielten Superkapitalisten, ersteigerten Hunderte Hektar zu Phantasiepreisen, weil sie gerade Lust dazu verspürten, und hoben dadurch die Bodenrichtwerte weiter an. Die anderen gehörten zur Kategorie »Weltenretter«, zogen nach Unterleuten, um im Auftrag des Naturschutzes ein paar dämliche Vögel gegen die örtliche Landwirtschaft zu verteidigen, und verwandelten jedes neue Silo und jede geplante Flächenumnutzung in eine Staatsaffäre mit Genehmigungspflichten, reihenweise Aktenordnern und nervtötenden Behördenverfahren.
Fest stand, dass die Ökologica in der momentanen Lage höchstens noch zwei Jahre weitermachen konnte, bevor sie in Zahlungsschwierigkeiten geriet. Kurz vor Ausbruch der Finanzkrise hatte Gombrowski eine halbe Million in die Modernisierung der Kuhställe investiert. Wenn er daran dachte, standen ihm noch immer die Haare zu Berge. Niemand kann in die Zukunft sehen, pflegte Hilde zu sagen, wenn die Sprache auf dieses Thema kam. Leider bestand der Beruf eines Landwirts aber im Hellsehen. Er musste das Wetter von nächster Woche genauso vorausahnen wie die neuesten Einfälle der europäischen Agrarpolitik. Wenn er mit seinen Prognosen ein paarmal danebenlag, ging der Laden pleite, so einfach war das.
Gombrowskis Leben war ein Kampf für die Ökologica, ein Kampf für Unterleuten und für die ganze Region, während sich alle anderen die Zeit damit vertrieben, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Wenn er das Wort »Politik« nur hörte, wurde ihm schlecht. »Politik« waren Leute, die eine Firma wie die seine kaputtsparten, um anschließend 20 Arbeitslose durchzufüttern. »Politik« war, wenn sich gelangweilte Westdeutsche mehr für Vögel als für Menschen interessierten. »Politik« bedeutete, dass Kron eine wehrlose Frau wie Hilde schlug, um zu verhindern, dass Gombrowski zur Dorfversammlung ging, wo es wahrscheinlich irgendwelche Pfründe zu verteilen gab. Vielleicht kam ja demnächst noch mehr Land unter den Hammer. Wobei Gombrowski nicht wusste, wieso das Kron interessieren sollte. Um bei Versteigerungen mitzuhalten, fehlte dem das nötige Kleingeld.
»Frührente«, sagte Gombrowski. »Dann können alle sehen, wie sie ohne mich klarkommen.«
»Jetzt mal halblang.« Hilde beugte sich vor, um ihn an der Schulter zu rütteln. »Oder bist du genauso dumm wie dein Hund?«
Er wusste sofort, worauf sie anspielte. Jeden Mittag ging er mit Fidi auf dem Feldweg hinter den Kuhställen bis zum alten Wasserturm und zurück, was einen Marsch von zwanzig Minuten ergab. Kurz bevor sie umkehrten, spielte sich täglich die gleiche Szene ab. Zweihundert Meter vor dem Wasserturm blieb Fidi stehen, ließ Gombrowski allein weitergehen und sah ihm mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung hinterher. Warum immer wieder bis zum Wasserturm laufen, wenn man doch schon wusste, dass man umdrehen und zurückgehen würde? Gombrowski hatte Hilde erzählt, wie sehr ihn dieses Verhalten ärgerte. Streng pflegte er die Hündin zu sich zu rufen, ließ sie das letzte Stück bei Fuß gehen und vor dem Wasserturm »Sitz« machen, bevor sie gemeinsam den Rückweg antraten. Aber Fidi lernte nichts daraus und blieb am nächsten Tag wieder zu früh stehen. Wäre Gombrowski jemals dem Vorschlag der Hündin gefolgt und zweihundert Meter vor dem Wasserturm umgekehrt, hätte Fidi am nächsten Tag noch zweihundert Meter früher angehalten und ihm nachgeschaut, als hätte er den Verstand verloren. Von Tag zu Tag wäre der Spaziergang kürzer geworden, bis sie den Hof gar nicht mehr verlassen hätten. Darüber wäre Fidi dann untröstlich gewesen, da sie die gemeinsamen Spaziergänge in der Mittagspause über alles liebte.
»Schon klar«, sagte Gombrowski. »Den eingeschlagenen Weg weitergehen, obwohl man weiß, dass er endet.«
»Du gehst heute Abend zur Dorfversammlung«, sagte Hilde. »Verstanden?«
Gombrowski seufzte und nickte.
»Danach sind wir klüger.«
»Soll ich Kron etwas von dir ausrichten?«
»Nichts.«
»Zeigst du ihn an? Wegen Körperverletzung?«
Schon als junge Frau hatte Hilde wässrig blaue Augen gehabt, die ihren Blick ein wenig abwesend wirken ließen. Das Alter hatte den Eindruck verstärkt. Es gab Menschen, die glaubten, sie sei nicht ganz richtig im Kopf. Wenn sie einen allerdings unvermittelt anschaute, lag Härte in ihrem Blick. Als spränge man in einen See, dachte Gombrowski, und plötzlich ist das Wasser nur wenige Zentimeter tief. Darunter Panzerglas.
»Seit wann«, fragte Hilde, »regeln wir unsere Angelegenheiten mithilfe der Polizei?«
Gombrowski tätschelte ihre Wange.
»Gut, dass du kein Mann geworden bist. Du wärst eine Gefahr für den ganzen Landkreis.«
Hilde schob seine Hand beiseite wie ein störrisches Kind.
»Steh auf«, sagte sie.
»Willst du schon nach Hause?«
»Wir gehen spazieren.«
Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich, öffnete die Terrassentür, warf der großen Hündin einen vernichtenden Blick zu und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. Erst im Flur holte Gombrowski sie ein.
»Du willst auf die Straße? Unter freien Himmel?«
»Nimm einen Schirm mit.«
So gingen sie Seite an Seite den Beutelweg hinunter. Mit der rechten Hand hielt Gombrowski, dem strahlenden Sonnenschein zum Trotz, einen aufgespannten Regenschirm über Hildes Kopf; die andere führte Fidi an der Leine. Man beobachtete das seltsame Trio, aus Vorgärten, hinter Gardinen, durch die Scheiben vorbeifahrender Autos. Gombrowski wusste, was dieser Spaziergang Hilde kostete. Er sah ihre mahlenden Kiefer und den Schweiß, der vom Haaransatz über die Schläfen rann. Rund um die Kirche und wieder zurück, ein Triumphzug, dessen Botschaft das Dorf verstand.
6 Kron
Kron fand es seltsam, sie alle in einem Raum versammelt zu sehen. Seit der Wende waren sie nicht mehr so zahlreich zusammengekommen, und selbst am Tag des Mauerfalls, als der Tanzsaal des Landmanns komplett aus Stühlen bestand, waren viele Plätze leer geblieben, weil einige nach Berlin und manche gleich zur Grenze gefahren waren. Die vierzig Versammelten hatten beisammengesessen und geschwiegen, weil die Ereignisse zu groß waren, um kommentiert zu werden.
Ein andermal waren immerhin dreißig Personen erschienen, als Arne plante, die Dorfstraße mit gepflasterten Bürgersteigen versehen zu lassen. Alle Anwesenden besaßen Grundstücke, die an die Dorfstraße grenzten, weshalb sie an den Kosten beteiligt werden sollten. Der Protest nahm derart massive Formen an, dass Arne die Idee fallen ließ und man bis heute am Straßenrand spazieren ging.
Zu Gemeinderatssitzungen erschien niemand außer den Gemeinderäten und Kron. Zu sechst oder siebt saß man im Gastraum am Skattisch und ging die Tagesordnungspunkte durch. Reparatur der Straßenbeleuchtung in Beutel, Ehrung von Blutspendern, Baugesuche, Aussprache mit der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit – das war dann Kron.