Heute jedoch brummte der Saal wie ein Bienenkorb. Alle hundert Stühle waren besetzt, weitere Personen standen an den Wänden. Eine summende Ansammlung in gedeckten Farben, hier und da bunt betupft von den Kleidern der Zugezogenen, für die der Sommer keine Jahreszeit, sondern eine Modeerscheinung darstellte. Die saubere Luft war der Atem des 21. Jahrhunderts. Dass ausgerechnet im Märkischen Landmann eines Tages ein Rauchverbot gelten würde, hätte sich vor ein paar Jahren niemand träumen lassen. In Unterleuten galten Rauchen und Trinken nicht als Laster, sondern als Hobby. Eine Frage des Geldes, nicht der Gesundheit.
Kron kannte jedes einzelne Gesicht, aber vor allem kannte er das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit. Kron besaß ein gutes Gedächtnis, was eher Strafe als Segen war. Ein gutes Gedächtnis arbeitete als ständiger Protokollant der Ungerechtigkeit. Es machte das Staunen unmöglich und lehrte zu schweigen. Niemand mochte Menschen, die sich alles merkten. Kron, der Chronist. Einer, der sich weigerte zu vergessen, und dafür mit Einsamkeit bezahlte.
Um Überblick zu gewinnen, war er an der Tür stehen geblieben. Der Zeitpunkt seines Eintreffens war gut gewählt. Alle saßen schon, obwohl der offizielle Teil noch nicht begonnen hatte. Silke und Sabine trugen Teller mit Schnitzel und Pommes durch die Reihen, lächelnd beim Gedanken daran, dass sie gerade den Umsatz ihres Lebens machten. Auf der Bühne des Tanzsaals stand ein Tisch, an dem Bürgermeister Arne saß und in seinen Unterlagen blätterte, wobei er die neugierigen Blicke der Wartenden auf sich zog. Der Andrang war seiner Geheimniskrämerei geschuldet. Auf allen Kanälen hatte Kron versucht, den Grund für die Dorfversammlung herauszufinden. Niemand schien etwas zu wissen. Wenn Arne so striktes Stillschweigen bewahrte, musste es sich um eine wichtige Sache handeln.
Lorenz, der Lastwagenfahrer. Thomas, der Bäcker. Agatha, die Architektin, und ihr Mann Jens, der Bauarbeiter. Daniel, René, Timmy und Mark, die ebenfalls Bauarbeiter waren, und Steffen, dem die Baufirma gehörte. Christina, die Kindergärtnerin. Ihre dralle zehnjährige Tochter Nadine. Hugo, der Dachdecker, und sein Sohn Knut, ebenfalls Dachdecker. Lena, die kochte. Sigrid, die putzte. Gerhard, der Vogelschützer, den Kron lustig fand, weil er Gombrowski mit sinnlosen Naturschutzvorschriften auf die Nerven ging. Gerhards Frau Jule, die ihr Baby auf dem Schoß hielt. Tonio, der junge Anwalt, schwul und aus Sachsen. Für Wolfgang, Heinz, Norbert, Jakob, Ulrich und Björn, alle über 70 und LPG-Veteranen wie Kron, hob er zum Gruß die Hand. Oma Rüdiger, mit dem halben Dorf verwandt, und Opa Margot, mit dem sie in wilder Ehe lebte, händchenhaltend in der ersten Reihe.
Am rechten Rand saß Krons Tochter Kathrin neben ihrem nichtsnutzigen Ehemann Wolfi und dem fünfjährigen Krönchen. Schon ertönte die Stimme des kleinen Mädchens als heller Ruf quer durch den Saaclass="underline" »Opa!« Kron spürte, wie sich sein Gesicht in ein großes Lächeln verwandelte, während er der Kleinen zurückwinkte.
Odile, die Yogalehrerin. Ihr Mann Jochen, der im Internet arbeitete. Ken, der Hundetrainer. Seine Freundin Claudia, die malte. Richard, der Gärtner. Der andere Richard, Schornsteinfeger. Frau Hailbronner, ehemalige Bundestagsabgeordnete im Ruhestand, von der niemand wusste, was sie nach Unterleuten verschlagen hatte, und die angeblich mit einem pensionierten Oberstudienrat verheiratet war, den man niemals sah. Karl, der Indianer, trug zur Feier des Tages dreifarbige Streifen auf den Wangen und ein Band um den Kopf, in dem die Feder eines Rotmilans steckte. Auch Karls neue Nachbarin war zugegen, eine hübsche Frau mit kräftigen Armen und Beinen, auffällig in ihrem knallblauen Kleid. Kron ermahnte sich, demnächst einmal bei den Neuen vorbeizuschauen. Daneben ihr Freund, der das Haar zu lang trug und garantiert irgendetwas mit Computern machte.
Verena, Ingo, Patricia, Olaf, Mirko, Angela, Lutz und Betty, die bei Gombrowski arbeiteten. Und Gombrowski selbst, der fette alte Hund. Auch Elena war anwesend, auf Gombrowskis anderer Seite, in sich gekehrt wie immer.
Kathrin pflegte zu behaupten, ihr Vater sei ein Menschenfeind. Aber Kron hatte nichts gegen die Leute, Gombrowski einmal ausgenommen. Es stimmte nicht, dass er Menschen dafür verurteilte, wie sie ihre Leben führten. Schließlich war es der Lebenszeit egal, womit man sie verbrachte. Selbst als seine Frau ihn und die kleine Kathrin verlassen hatte, um ihren schönen Dickkopf in den Westen zu schmuggeln, hatte er sie nicht verurteilt. Dabei hatte sie nicht nur ihre Familie, sondern auch den Sozialismus verraten.
Wenn sie Streit hatten, schimpfte Kathrin ihn einen unbelehrbaren Kommunisten, wobei sie sich ungeheuer modern vorkam. Sie glaubte tatsächlich, wer E-Mails schreiben konnte, im Urlaub nach Thailand fuhr und den entfesselten Kapitalismus als alternativlos betrachtete, habe das 21. Jahrhundert verstanden. Seit Beginn der Finanzkrise, die vollumfänglich Krons jahrelangen Ankündigungen entsprach, gab sich Kathrin ein wenig kleinlauter, ging aber noch lange nicht so weit, ihrem alten Vater recht zu geben. Stattdessen warf sie ihm vor, dass er zwanzig Jahre nach der Wende noch immer nicht begriffen habe, was Freiheit sei.
Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. Was Leute wie Kathrin für Individualismus hielten, entsprach in Wahrheit einem Zustand von Unterwürfigkeit. Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpausen verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben. In den Schulen, die jetzt »Lernumgebungen« hießen, wurde nicht mehr unterrichtet, sondern Projekte entwickelt, Lernprozesse evaluiert und in Kernkompetenzen investiert. Die Krankenhäuser hatten sich in Gesundheitsfabriken verwandelt, in denen sich eine industrialisierte Medizin nicht um den Patienten, sondern um die Bettenrendite kümmerte, was Kathrin, die im Neuruppiner Krankenhaus als Pathologin arbeitete, selbst am besten wusste.
Vor einigen Wochen hatte Kron seine Enkelin im Kindergarten abgeholt und zufällig mitgehört, wie die Betreuerin einer jungen Mutter erklärte, dass die »Bastelkompetenzen« ihres kleinen Sohnes leider nicht der Norm entsprächen. Es war nur Krönchens strahlenden Augen zu verdanken gewesen, dass Kron nicht handgreiflich geworden war.
Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, was passierte. In einer kleinen Gemeinschaft wie Unterleuten war es besonders offensichtlich. Die neoliberale Ideologie, getarnt als Mischung aus Pragmatismus und Leistungsgerechtigkeit, eroberte die letzten Winkel des gesellschaftlichen Lebens. Zu Zeiten der Stasi wurde weniger beobachtet, abgehört, gedroht und gefeuert als heute, und trotzdem nannte sich das neue System Demokratie. Stück für Stück war der soziale Zusammenhalt erodiert. Was sich heute im Landmann versammelt hatte, war kein Dorf mehr, sondern eine Zweckgemeinschaft von Einzelkämpfern. Wenn Kron darauf hinwies, nannte man ihn einen hoffnungslosen Ostalgiker, und seine Tochter Kathrin versank vor Scham im Boden.
Niemals würde Kron verstehen, wie die Leute in der Lage waren, mit harter Arbeit kaum das Existenzminimum zu erreichen und dennoch zu glauben, dass sie in der besten aller Welten lebten. Dass die meisten Unterleutner so zufrieden wirkten, hinterließ ihn fassungslos. Sie waren wie Gombrowskis Kühe, die auch nicht mehr gemolken und geschlachtet, sondern verwaltet wurden. Seit Neuestem trugen die Tiere Transponder um den Hals und trotteten freiwillig von Futtertrog über Melkmaschine zu Massagebürsten, Liegeplätzen und Bolzenschussgerät. So sah sie aus, die schöne neue Welt, die sich auf Dorf und Republik ausgedehnt hatte. Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde. Trotzdem machte Kron, anders als Kathrin glaubte, diese Entwicklung niemandem zum Vorwurf. Es gab nur zwei Dinge, die er von Menschen verlangte: Gemeinschaftssinn und Aufrichtigkeit. Das hatte nichts mit gestern oder heute zu tun. Auch nichts mit Kommunismus oder Kapitalismus. Das war überhaupt keine Frage der Gesellschaftsform, sondern eine von Anstand und Vernunft.