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Nach reiflicher Überlegung entschied sich Kron für einen bestimmten Platz und setzte sich in Bewegung. Bei jedem Schritt stieß er die Krücke laut aufs Parkett wie den Stock eines Zeremonienmeisters, der wichtigen Besuch ankündigte. Die Köpfe im Saal wandten sich um und fassten einen gemeinsamen Gedanken: Da kommt Kron.

Der Stuhl, auf dem er sitzen wollte, befand sich auf der anderen Seite des Saals. Von dort aus hätte er einen guten Blick nach vorn und könnte gleichzeitig die Eingangstür im Auge behalten. Momentan saß dort Knut, der junge Dachdecker. Es würde reichen, ihm mit der Krücke auf die Schulter zu klopfen, damit er den Platz räumte.

Statt außen um den Raum herumzugehen, wählte Kron den Weg durch die Masse der Sitzenden. Stühle wurden gerückt, Knie beiseitegeklappt, manch einer stand auf, um ihn vorbeizulassen. Kron grüßte in alle Richtungen. Für die Einheimischen hatte er ein Schulterklopfen, für Zugezogene ein Nicken. Nicht wenige der Anwesenden hatte er einst aus dem Kinderwagen gehoben und durch die Luft geschwenkt, als sie noch sabbernde Babys waren. Im Kindergarten hatten sie wartend auf winzigen Stühlchen gesessen, während er an der Reihe entlanggegangen war, um seine Kathrin abzuholen. Kron war der erste und bislang einzige alleinerziehende Vater in Unterleuten. Über Kathrin hatte er die anderen Dorfkinder kennengelernt. Er wusste bis heute, ob sie früh oder spät mit dem Laufen und Sprechen begonnen hatten, ob sie eher zur Sorte Schläft-Nicht oder zur Sorte Isst-Nicht gehörten, ob sie viel krank waren, viel weinten, Angst vor Hunden oder vor Spinnen hatten. Jetzt saßen sie hier, erwachsene Männer und Frauen auf Stühlen in Normalgröße, und es war schwer zu glauben, dass sie allesamt einmal geliebte Babys gewesen waren. Heute sahen sie aus wie die Eltern jener Kleinkinder, an die sich Kron erinnerte.

Das Vergehen der Zeit macht uns zu unseren eigenen Vätern und Müttern, dachte er. Alle Gesichter enthielten einen deutlichen Abdruck des früheren Kindes. Bei manchen schien das Erwachsenengesicht nur wie ein dünner Schleier vor der Kindermiene zu hängen. Wenn man wissen wollte, was ein Mensch dachte und fühlte, musste man sich nur vorstellen, wie er als Kind ausgesehen hatte, und schon trat sein ganzes Innenleben zutage.

Gombrowski verrenkte sich auf seinem Stuhl, um Krons Weg durch den Saal mit Blicken zu begleiten, auf eine Gelegenheit wartend, ihn demonstrativ zu grüßen. Gombrowski war sieben Jahre jünger, sah aber, wie Kron fand, wesentlich älter aus. Kron musste nur einen Schalter im Kopf umlegen, dann erblickte er in der fetten alten Hundevisage den pausbäckigen Jungen von früher, ein verwöhntes Großgrundbesitzerkind, im Glauben aufgewachsen, dass die Welt allein zu seinem persönlichen Vergnügen erschaffen worden war. An dieser Idee hatte sich bis heute nichts geändert.

Als es dem alten Hund gelang, Krons Blick zu fangen, zelebrierte er ein spöttisch-respektvolles Nicken und zog gleichzeitig die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: Nur weiter so, Kron, zeig den Leuten, was für ein Dreckskerl du bist. Die selbstgefällige Visage bereitete Kron Übelkeit.

Es war nicht so, dass er sich nicht geschämt hätte, auch wenn Hilde ein völlig überflüssiges Theater veranstaltet hatte. Vor zwanzig Jahren hatte sie dabei geholfen, das halbe Dorf zu enteignen, und heute war sie nicht einmal bereit, einem unglücklichen Kind ein wertloses Kätzchen zu überlassen. Trotzdem widersprach es Krons Prinzipien, sich an Schwächeren zu vergreifen. Hilde war seit Jahr und Tag Gombrowskis Komplizin, aber sie war immer noch eine Frau.

Sogar eine, die Kron in früheren Zeiten gut gefallen hatte. Damals auf den Fluren der LPG hatte er jede Gelegenheit genutzt, im Büro der Buchhalterin vorbeizuschauen, einen Kaffee zu trinken und sich an ihren wasserblauen Augen zu freuen. Ein Besuch bei Hilde ist wie zwei Tage Urlaub an der Ostsee, pflegte er zu sagen, und er hatte den Eindruck, dass ihr seine temperamentvollen Komplimente gefielen. Trotzdem ging sie in der Mittagspause in den Getreidespeicher, um sich von Gombrowski bespringen zu lassen.

Ausgerechnet Gombrowski, der Frau und Kind zu Hause hatte, während Kron mit der kleinen Kathrin allein blieb. Eines Tages heiratete Hilde überraschend den ruhigen Erik aus der Erntebrigade. Als nicht viel später Betty zur Welt kam, ging Kron wie alle anderen davon aus, dass Gombrowski seine Buchhalterin geschwängert und dem werdenden Kind einen Vater gekauft hatte. Trotzdem respektierte Kron die Verbindung und stellte seine Annäherungsversuche ein. Dass ihm ausgerechnet bei ihr gestern der Stock ausgerutscht war, mochte daran liegen, dass sie ihn noch immer leichter als andere aus der Fassung brachte.

Er erreichte den Stuhl, den er sich ausgesucht hatte, und klopfte mit der Krücke gegen die Lehne. Sofort sprang Knut auf und vollführte eine einladende Geste, die ein wenig übertrieben wirkte, wie die Gebärde eines Kabarettisten. Im Grunde glich das Dorf einem Tanzbären, dachte Kron, gut zu handhaben für jeden, der mit Zuckerbrot und Peitsche umzugehen wusste. Er legte die Krücke auf den Boden und streckte das steife Bein.

Die Lautsprecher krachten, ein lautes Räuspern ertönte und ging in ohrenbetäubendes Pfeifen über. Ungeschickt fingerte Arne am Mikrofon herum, bis Jochen aufsprang und das Gerät für den Bürgermeister justierte.

Das Gemurmel ebbte ab, als die Saaltür aufging und ein junger Mann in Jeans und Sakko erschien. Unter dem Arm trug er einen Beamer. Er ging an der Wand entlang nach vorn, wechselte ein paar Worte mit Arne, der am Tisch sitzen blieb, stellte den Beamer auf den Tisch und entnahm seiner Umhängetasche einen Laptop, den er mittels weniger Handgriffe mit dem Beamer verband. Kron konzentrierte sich auf das Gesicht des Unbekannten. Wenn er das Kind hinter dem Erwachsenen aufrief, kam ein bebrillter Bengel heraus, der wenig Freunde besaß und beim Melden mit den Fingern schnippte.

»Herrschaften«, sagte Arne, »schön, dass ihr alle da seid. Ich dachte immer, ihr kommt zu den Versammlungen, wenn ich möglichst genau erkläre, worum es geht. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr den Arsch nur hochkriegt, wenn ihr keine Ahnung habt, hätte ich mir in den vergangenen Jahren viel Arbeit sparen können.«

»Komm zur Sache, Arne!«, rief Lorenz, der es gern laut hatte. Daniel, Mark und Timmy lachten, Steffen brachte sie zur Ruhe.

»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. Nur so viel von meiner Seite: Ich glaube, dass wir heute Abend von einer interessanten Sache hören, die uns allen nützen kann. Das ist Herr Pilz.«

Nadine kicherte.

»Er arbeitet für die Vento Direct GmbH und ist extra aus Freudenstadt zu uns gekommen.«

»Hat er denn auch ein bisschen Freude mitgebracht?«, fragte Thomas und errang den ersten Punktsieg im Wettkampf um den dümmsten Zwischenruf des Abends.

»Benehmt euch«, sagte Arne. »Bitte, Herr Pilz.«

Pilz nahm von Arne das Mikro entgegen, zog ein paar Meter Kabel zu sich heran und trat neben den Tisch, an dem Arne in seiner typischen brütenden Haltung hockte. Vento, Vento, Vento, dachte Kron. Er war sicher, den Namen der Firma noch nie gehört zu haben.

»Herzlichen Dank an den Bürgermeister für die einleitenden Worte.«

Pilz schob sich die Brille ein Stück höher auf die Nase, wobei er der Versammlung versehentlich den Mittelfinger zeigte. Ohne Zweifel gehörte er zu jenen gehirngewaschenen Sklaven der Leistungsgesellschaft, die »Lösungen« sagten, wenn sie Möbel meinten, und zu einer internationalen Supermarktkette gingen, um dort Waren aus der Region zu kaufen. Kron wusste, dass der Junge versuchen würde, seine Zuhörer »abzuholen«, um »auf Augenhöhe« mit ihnen zu reden. Ein Typ wie Pilz war noch nicht mal Verkäufer, er war selbst ein Produkt.