»Ganz schön warm heute«, sagte Pilz und fuhr sich demonstrativ mit dem Finger in den Hemdkragen, der bis oben zugeknöpft war, obwohl er keine Krawatte trug. »Bei solchen Temperaturen kann man sich vorstellen, was Klimakatastrophe bedeutet.«
»Bessere Ernten und weniger Heizkosten«, sagte Kron, und der Saal begann bis in die letzte Reihe zu lachen. Nur der Vogelschützer schüttelte missbilligend den Kopf und sagte etwas zu seiner rothaarigen Frau. Zufrieden mit dem Erfolg seines Einwurfs dehnte Kron die Schultern und unterdrückte den Impuls, sich nach Gombrowski umzuschauen. Der alte Hund würde sich auch so daran erinnert fühlen, dass er vielleicht das Geld, nicht aber die Leute hinter sich hatte.
Pilz wartete in aller Ruhe, bis die Heiterkeit im Saal verebbte. Längst hatte er den Urheber des Einwurfs ausfindig gemacht und signalisierte durch freundliches Zwinkern, dass er plante, mit Kron in einen Dialog zu treten. Die Art, wie er ohne jedes Schwanken vor dem Publikum stand, verriet Übung.
»Aber nicht nur das, Herr …?«
Jetzt schaute er Kron direkt an und wartete darauf, dass dieser seinen Namen sagen möge. Aber Kron dachte nicht daran. Stattdessen wartete er grinsend, bis das Pilz-Manöver ins Leere gelaufen war. Der Saal schwieg. Unverdrossen nahm Pilz den Faden wieder auf.
»Der Klimawandel bedroht uns mit empfindlichen Gefahren. Ansteigen des Meeresspiegels, Dürreperioden, Stürme. Das wissen Sie aus den Medien. Die Vento Direct hat es sich zur Aufgabe gesetzt, Lösungen anzubieten.«
Da waren sie also, die Lösungen. Damit kannte Kron sich aus. Immerhin steckten jeden Morgen zwei überregionale Tageszeitungen in seinem Briefkasten. Früher hatte er die Blätter als Reportagen aus dem Herzen des Feindes gelesen, heute las er sie als Satiremagazine. Er wusste, wie man mit Schweinegrippe Pharmaprodukte verkaufte, mit Terrorismus Wirtschaftskriege legitimierte und mit Klimakonferenzen den heimischen Markt gegen Billigimporte schützte. Er beherrschte die dazu passende Rhetorik. Auf einer Pressekonferenz hätte er jeden beliebigen Schwachsinn erklären können, zum Beispiel, warum trotz Bankenkrise eine Regulierung der globalisierten Märkte leider nicht möglich sei. Er wusste, wann man »alternativlos« und »Sachzwang« sagen musste, nämlich in jedem zweiten Satz. Er kannte die Argumentationsfiguren, mit denen Verantwortung von den Kommunen auf die Länder, von der Landesebene auf die Bundesregierung und von der Bundesregierung nach Brüssel abgeschoben wurde. Soziale Ungerechtigkeiten ließen sich bestens legitimieren, indem man darauf verwies, dass Wirtschaft und Wohlstand andernfalls nach China abwandern würden.
Außer dem Lesen von überregionalen Witzblättern sah er jeden Abend fern, am liebsten öffentlich-rechtlich. Erst die Nachrichten und danach die einschlägigen Selbstentlarvungsshows mit Plasberg, Will, Beckmann, Maischberger, Illner oder Lanz. Die industrialisierte Zurschaustellung von Inkompetenz erheiterte ihn. Im Spätkapitalismus gab es keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch ein Gesellschaftsspiel, dessen Ziel darin bestand, die kläglichen Überreste von Politik möglichst gekonnt in Unterhaltungswert umzusetzen. Da die Politiker nach eigenem Verständnis ohnehin nichts mehr zu entscheiden hatten, verwandelten sie sich in Politikdarsteller, deren Hauptaufgabe in Emotionstheater, Überzeugungsinszenierung und Entscheidungssimulation bestand. In gewisser Weise war das Kunst. Es gab Empörungsarien, Schuldzuweisungssinfonien und Forderungsballaden. Bequem saß Kron im Sessel, wie es das System von ihm erwartete, und schaute Kanzlerkandidaten, Oppositionsführern und Regierungssprechern beim Rüberkommen zu. Alle schauten zu. Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten. Alles ließ sich in den Zyklus des Zuschauens einspeisen, Eurokrisen, Erdbeben, explodierende Bohrinseln. Bei der Suche nach nicht vorhandenen, weil in Wahrheit nicht wirklich gewollten »Lösungen« ging es ausschließlich um das Erzeugen von Unterhaltungswert. Kron durchschaute das Spiel in schmerzhafter Klarheit. Als Kind hatte er Krieg und Nachkriegszeit, als Erwachsener die DDR und als alter Mann den entfesselten Raubtierkapitalismus erlebt. Er hatte genug gesehen, um die Welt als einen Ort zu begreifen, an dem Veränderung vor allem darin bestand, die Ungeheuerlichkeit in immer neue bunte Gewänder zu kleiden. Krons bequemer Sessel stand auf der Meta-Ebene. Er schaute zu und verteilte A- und B-Noten. Pilz schlug sich gut. Er war dabei, sich eine hohe Punktzahl auf der Verlogenheitsskala zu sichern.
»Die Europäische Union verpflichtet ihre Mitgliedstaaten zur Förderung erneuerbarer Energien«, erklärte Pilz. »Das Bundeswirtschaftsministerium will den Anteil erneuerbarer Energien in den nächsten Jahren auf 33 Prozent des Gesamtverbrauchs steigern. Brandenburg beansprucht eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Dazu hat sich Ihr Ministerpräsident ausdrücklich bekannt.«
Pilz breitete die Arme aus und wartete, ob sich irgendjemand dem Stolz auf Bundesland, Vorreiterrolle und Ministerpräsident hingeben wollte. Aber das Erneuerbare-Energien-Mantra hatte narkotisierende Wirkung entfaltet, der Saal wirkte schläfrig. Pilz schaltete den Beamer an. Auf der Wand erschien ein Lichtviereck mit einem Schriftzug in der Mitte:
»MINISTERPRÄSIDENT: AUF JEDEN FALL MEHR ERNEUERBARE ENERGIEN.«
Nun lag auf der Hand, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Krons Gehirn lief heiß beim Versuch, die verschiedenen Informationsbruchstücke zu einem stimmigen Bild zu arrangieren. Arne. Gombrowski. Erneuerbare Energien, Pilz und Vento Direct. Arne saß am Tisch und blätterte in seinen Unterlagen wie ein Lehrer, der dem Referat eines begabten Schülers beiwohnt. Gombrowskis Hundeblick hing arglos an Pilz, aber das konnte Tarnung sein. Nur der Vogelschützer war in offensichtlicher Aufregung, er rieb sich die Stirn, während seine Frau begonnen hatte, das Baby zu stillen.
Die aktuellen Liegenschaftspläne hatte Kron weitgehend im Kopf. Er versuchte zu schlussfolgern, um welches Gebiet es sich handeln würde. Der Wiesengrund. Die Plausitzer Höhe. Die Unterleutner Heide. Kron fixierte Arne, um ihn bei einem heimlichen Blickwechsel mit Gombrowski zu ertappen. Nichts. Anscheinend nahmen sie die Sache so ernst, dass sogar Arne es schaffte, sich professionell zu verhalten.
»So«, sagte Pilz, »jetzt wollen Sie bestimmt genau wissen, worum es geht.«
Niemand reagierte. Die Erwähnung des Ministerpräsidenten hatte die kollektive Narkose vertieft. Pilz ließ die Projektion an der Wand wechseln. Das Logo der Vento Direct erschien, ein Kreis mit einem stilisierten Rotor in der Mitte, so schlicht und einleuchtend, dass es auch einem totalitären Staat als Symbol hätte dienen können. Darunter die Webadresse: www.ventodirect.de. Nach wenigen Sekunden, in denen Pilz sein Markenzeichen wirken ließ, erschien die Panorama-Aufnahme einer Brandenburger Landschaft, Weizenfelder im Sonnenuntergang. Am Horizont die imposanten Silhouetten von sieben Windkraftanlagen, die Rotorblätter ausgebreitet wie steife Schwingen.
Für ein paar Augenblicke herrschte absolute Stille. Dann erhob sich Unruhe im Saal. Als Kron sich umdrehte, um die Reaktionen der Anwesenden zu beobachten, erstarrte er plötzlich wie vom Donner gerührt. Zwei Reihen hinter ihm, direkt neben der Neuen im blauen Kleid, saß ein Mann, der nicht nach Unterleuten gehörte. Fremd, aber nicht unbekannt. Unfassbar, dass Kron ihn beim Eintreten übersehen hatte. Vielleicht hatte sich der Kerl geduckt. Kron wusste genau, woher er die kugelköpfige Visage kannte. Das war der Schnösel von der Versteigerung. Jener Investor, der für einen horrenden Betrag die halbe Region gekauft hatte und seitdem die Leute mit seiner Sturheit terrorisierte. Er verkaufte nicht, tauschte nicht und hob die Pachtpreise bei jeder anstehenden Vertragsverlängerung um mindestens zehn Prozent an. Heuschrecke eben.