Kron blickte zwischen Gombrowski und dem Schnösel hin und her. Beide stellten überraschte, mäßig interessierte Mienen zur Schau und schienen sich gegenseitig nicht zu kennen. Krons Kopfmaschine arbeitete auf Hochtouren. Gleichzeitig ließ aufkommende Wut die Handflächen prickeln. Hier lief ein Ding. Ein ganz großes Ding.
7 Fließ-Weiland
»Nur über meine Leiche«, flüsterte Gerhard.
So nervös hatte Jule ihn schon lange nicht erlebt. Er drehte den Kopf hierhin und dorthin, als erwartete er, im nächsten Moment von allen Seiten angegriffen zu werden. Zwischendurch machte er Notizen, die dann wochenlang auf seinem Schreibtisch herumliegen würden, als müssten sie ein bestimmtes Alter erreichen, um weggeworfen zu werden.
»Was regst du dich auf«, flüsterte Jule. »Erneuerbare Energien findest du doch gut.«
Entsetzt schaute Gerhard sie an, ließ den Stift fallen und hob ihn wieder auf.
»Aber doch nicht im Naturschutzgebiet!«, sagte er ein wenig zu laut.
Um sie herum wurde Zustimmung gemurmelt.
»Wieso im Naturschutzgebiet?«, fragte Jule leise.
»Hörst du überhaupt zu?«
Da hatte er sie ertappt. In letzter Zeit fiel es ihr manchmal schwer, sich auf die Außenwelt zu konzentrieren. Seit Sophie auf der Welt war, schien für das Baby und sie ein besonderer Ort zu existieren, den niemand sonst betreten konnte. Als liefe eine unsichtbare Mauer um sie beide herum. Deshalb gab Jule ihr Baby so ungern aus der Hand – Sophie durfte nicht auf die andere Seite der Mauer geraten. Schließlich diente die Mauer dem Schutz vor Feinden, und feindlich war alles, was sich außerhalb der Mauer befand. Auch Gerhard. Für ihn tat es Jule besonders leid. Er bemühte sich nach Kräften, ein guter Vater zu sein, und machte trotzdem alles falsch.
Vor Sophies Geburt hatten sie lang und breit darüber gesprochen, was für eine Sorte Eltern sie sein wollten. Jule hatte geschworen, niemals eine dieser hysterischen Mütter zu werden, die ihren Kindern auf Berliner Spielplätzen mit Feuchttüchern und Vollkornkeksen hinterherrannten. Gerhard wollte ein moderner Vater sein, der sich im Restaurant lautstark darüber beschwerte, dass der Wickeltisch auf der Frauentoilette stand. Arbeitsteilung und Kommunikation sollten über allem stehen. »Erst Paar, dann Eltern« lautete ihr gemeinsames Motto. Schließlich gab es nichts Schlimmeres als überbesorgte Eltern, die nicht begriffen, dass Fortpflanzung seit Tausenden von Jahren ohne Ratgeberliteratur, Holzspielzeug und lactosefreie Milch stattfand. Gerhard und Jule hatten nicht vor, ihr Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Natürlich würde ein Kind manches ändern, aber das war kein Grund für permanenten Ausnahmezustand. Glückliche Eltern hatten glückliche Kinder, weshalb man bei allem Stress niemals vergessen durfte, auf sich selbst zu achten. Das nötige Babyzubehör bestellten sie im Internet; danach fühlten sie sich für alles gerüstet.
Dann kam Sophie. Die ersten Tage nach der Geburt stellten einen surrealen Film dar, in dem es weder Sprache noch Tageszeiten gab, nur unklares Licht und klagende Laute. Sie irrten durch die Trümmer ihrer ausgiebigen Vorbereitung, zwei kopflose Erwachsene auf der Suche nach Schnullern, Windeln, Feuchttüchern, Söckchen. Hoben Gegenstände auf und ließen sie wieder fallen. Fingen alles halb an und vergaßen gleich wieder, was sie vorgehabt hatten. Im Bad stapelte sich die Schmutzwäsche, an der Haustür der Müll. Sophie schrie viel und war ziemlich hässlich. Ob man sie auf dem Arm trug oder ins Bettchen legte, sie streichelte, massierte, ihr etwas vorsang oder ein Kuscheltier vor ihrem Gesicht tanzen ließ – sie schien den Unterschied kaum zu bemerken. Von magischen Momenten oder überwältigenden Glücksgefühlen keine Spur.
Als sich das Chaos ein wenig lichtete, saß Jule irgendwann mit ihrer Tochter auf der Couch und erlebte einen Augenblick der Stille, ein kurzes Luftholen inmitten der Hektik. Sie hielt Sophie im Arm und betrachtete sie eingehend. Das Mädchen schaute zurück, mit verschwommenem Blick, der noch Mühe hatte, die Welt scharf zu stellen. Die Babystirn gerunzelt, die Augen zu Schlitzen verengt, den Mund zu einer misstrauischen Kirsche zusammengezogen. Das kleine Gesicht ein einziges Sinnbild der Skepsis. Plötzlich begriff Jule: Das Kind fand die Mutter genauso verdächtig wie die Mutter das Kind.
Da passierte es. Eine Welle schlug über ihr zusammen. Oder vielleicht war es ein Stromstoß, der sie durchfuhr. Jule lachte und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie saß auf dem Sofa und konnte die Augen nicht mehr von ihrer Tochter abwenden. Sophie war gar nicht hässlich. Sie war eindeutig das schönste Kind im Universum.
So blieb es. Jedes Mal, wenn sie Sophie anblickte, wiederholte sich das Welle-Strom-Lachen-Heulen-Programm. Jule konnte Schmerz und Glück nicht mehr auseinanderhalten, und diese Unfähigkeit machte sie zur Außenseiterin. Sie begriff die Nichtigkeiten nicht mehr, mit denen sich andere Menschen beschäftigten. Die Welt bestand nur noch aus Leuten, die nicht in der Lage waren, Sophie angemessen zu behandeln. Dazu gehörte auch Gerhard. Er hielt Sophie nicht richtig und machte beim Wickeln die falschen Handgriffe. Gelegentlich erinnerte sich Jule daran, was sie vor der Geburt über Mütter gesagt hatte, die wie Affen an ihren Babys hingen. Das galt immer noch. Aber es waren eben andere Babys und nicht Sophie.
»Ich fasse es nicht, was hier passiert.«
In der Aufregung griff Gerhard nach ihrem Arm. Seine Hand war hart und kalt wie eine Zange. Sofort stellte sich Angst ein, er könnte Sophie aufwecken, die auf Jules Schoß selig schlief. Anscheinend fühlte sich das Mädchen in einer nach Bratenfett riechenden Menschenmenge wohler als in ihrem von brennendem Gummi verpesteten Zuhause. Jule musste sich bezwingen, um Gerhards Hand nicht abzuschütteln. Sie suchte nach ein paar zustimmenden Worten für ihn. Bestimmt hatte er recht mit seiner Fassungslosigkeit. Er hatte meistens recht bei der Einschätzung von Menschen und Situationen. Aber ihr fiel nichts ein. Jule war einfach nicht in der Lage, sich für ihn zu interessieren, schlimmer noch, sie wünschte insgeheim, er und seine Aufregung mögen sich in Luft auflösen.
Jule wusste, dass ihre Hormone verrückt spielten und dass sie außerdem unter Schlafmangel litt. Sie hatte nicht vergessen, warum sie Gerhard geheiratet hatte. Wie alle ihre Freundinnen und Kommilitoninnen hatte sie jahrelang Pech mit Männern gehabt und es kaum bemerkt, weil Pech mit Männern den Normalfall darstellte. Für emanzipierte junge Frauen gab es einfach keine männlichen Gegenstücke.
Im ICE konnte man ältere Ehepaare beobachten, die stets zu zweit an einem Vierertisch saßen. Während die Frau ein Sudoku löste, las der Mann die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wobei er gelegentlich durch kurzes Auflachen seine Verachtung für das Gelesene zum Ausdruck brachte. Irgendwann rief er: »Marianne, hör dir das an«, und las einige Zeilen aus der Zeitung vor. Darauf folgte eine ausführliche Erklärung, welche gravierenden Denkfehler der strohdumme Autor begehe und warum die Zeitung heutzutage das Papier nicht mehr wert sei, auf dem sie gedruckt wurde. Marianne sagte »Du hast recht« und förderte eine Tupperdose mit Salamibroten zutage. Der Mann empörte sich lautstark über die kleinbürgerliche Angewohnheit, auf jede noch so kurze Reise ein Proviantpaket mitzunehmen, aß dann hungrig von den Broten und nahm noch ein hart gekochtes Ei dazu.
In den meisten ihrer Kommilitonen konnte Jule heute schon den Privatdozenten aus dem ICE erkennen. Bis auf wenige Ausnahmen, die nett und so langweilig waren, dass man es beim besten Willen nicht mit ihnen aushielt.
Die Idee zu Gerhard war simpel gewesen. Er konnte kein Vollidiot mehr werden, weil er sich in einem Alter befand, in dem die meisten Männer schon einer waren. Bei einem 45-Jährigen lagen die Dinge bereits auf der Hand. Ein Testlauf barg wenig Risiko.