Nach den ersten gemeinsamen Abenden war klar, dass auch Gerhard dozierte. Er brauchte keine Frau, sondern ein Publikum. Die Überraschung bestand darin, dass es Jule nichts ausmachte. Sie hörte ihm mit wachsendem Erstaunen zu. Er besaß eine Fähigkeit, die ihr wie Magie erschien. Gerhard war in der Lage, sich eine Meinung zu bilden, mehr noch, er besaß eine Ansicht zu fast allem, was er hörte oder sah. Alles ging ihn an. Weil er aus rätselhafter Quelle eine Vorstellung von »richtig« und »falsch« bezog, hatte er es nicht nötig, sich abzuschotten. Während Jule ständig in einem Meer von Informationen, Varianten und Versionen zu ertrinken drohte und deshalb darauf angewiesen war, sich für möglichst wenig Dinge zu interessieren, saugte Gerhard die chaotische Welt in sich ein, drehte sie durch seinen Prinzipienfilter und spuckte sie in ordentlich beschrifteten Päckchen wieder aus, ein Vorgang, den er »kritisches Bewusstsein« nannte. Nichts machte ihn sprachlos, nichts schüchterte ihn ein. Er nahm es mit Krisen und Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen auf, verurteilte begangene Fehler, benannte die Schuldigen und kannte die bestmögliche Lösung.
In Jules Augen der reinste Zaubertrick. Sie selbst musste nur eine beliebige Nachrichtenseite im Internet öffnen, um von einem lähmenden Schwindel erfasst zu werden. Jede Information verwies auf viele weitere Informationen, alles hing mit allem zusammen, und sicher war nur, dass es Jule besser ging als fast allen anderen Menschen auf der Welt. Trotzdem fühlte sie sich nicht glücklich, im Gegenteil. Sie wusste nicht einmal, wer sie war. In ihr gab es keinen festen Kern, nichts, was den Namen »Jule« wirklich verdiente. Immer wieder probierte sie verschiedene Rollen, die angepasste Studentin oder die aufmüpfige Rebellin, Party-Girl oder Spießerin, zynische Feministin oder feminine Verführerin. Die Rollen funktionierten ein paar Tage, manchmal Wochen oder sogar Monate, dann fielen sie von ihr ab wie zerschlissene Kleider. Übrig blieb eine Frau, die keine Überzeugungen besaß, keinen Glauben und keine Idee von einer besseren Welt.
Aber Jule wollte sich nicht im Ungefähren verlieren. Das Facebook-und-Spiegel-Online-Geschwafel ihrer Freunde ging ihr auf die Nerven. Sie wollte jemand sein. Sie war gefangen in einer Betäubung, die sich nicht abschütteln ließ – bis sie Gerhard traf. Während er sprach, verwandelte sich Jule in eine Person und die Welt in einen begehbaren Ort. Zum ersten Mal spürte sie festen Boden unter den Füßen.
Um sie herum wurde gelacht. Anscheinend hatte wieder einer aus dem Publikum einen Witz auf Kosten des Typen auf der Bühne gemacht. Jule hörte, wie Gerhard verächtlich schnaubte. Sie wollte verstehen, worum es ging, und kämpfte gegen die Müdigkeit, die ihr das Gehirn vernebelte. Mit Blicken suchte sie Oma Rüdiger im Saal und entdeckte sie in der ersten Reihe, wie sie mit halb offenem Mund und kurzsichtigen Augen auf die Projektion an der Wand starrte. Oma Rüdiger war eine wichtige Person im Dorf. Sie war mit ganz Unterleuten und noch ein paar Nachbardörfern in irgendeiner Form verwandt und trank gern Bromfelder, einen Kräuterlikör, der nach Maschinenöl mit Eukalyptus schmeckte. Oma Rüdiger war Börse und Dorfzeitung in einem. Wer etwas brauchte, ob Kantsteine oder Informationen, ging zu ihr. War die Angelegenheit komplizierter, brachte man eine Flasche Bromfelder mit. Aber das hier war keine Sache, die sich mit einer Flasche Schnaps erledigen ließ. Auch wenn Jule ansonsten wenig mitbekam, eines stand fest: Der Mann auf der Bühne stammte aus einer anderen Welt, und er war gekommen, um die Dörfler über den Tisch zu ziehen. Da galt eine alte Regel von der Uni: Wer einen Beamer mitbringt, ist ein Betrüger. Jule verspürte Mitleid mit Oma Rüdiger und den anderen und freute sich, weil das immerhin eine Art menschlicher Regung war.
Was Gerhard betraf, hatten sich Jules Hoffnungen tatsächlich erfüllt. Er unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von den Twenty-Somethings, mit denen sie seit dem Abitur das Spiel »Feste Beziehung« ausprobiert hatte. Gerhard empfand Dankbarkeit. Er war dankbar für Jules Existenz, für jede Minute ihrer Anwesenheit, für jedes Wort, das sie zu ihm sprach. Er hatte das Gefühl, kein Anrecht auf Jule zu besitzen, und dieses Gefühl war, wie sie bald erkannte, die einzig taugliche Grundlage für eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau.
Sogar seine Macken hielten sich in Grenzen. Zum Einkaufen fuhr er mit einer Liste, auf der die Waren entlang des Wegs durch den Supermarkt geordnet waren. Wenn er etwas aus dem Regal nahm, strich er es von der Liste. Fiel ihm spontan ein Produkt ein, das er kaufen wollte, obwohl es nicht auf dem Zettel stand, schrieb er es auf, um es gleich wieder durchstreichen zu können. Das war verschroben, aber nicht gemeingefährlich. Außerdem las er abends vor dem Einschlafen Gebrauchsanweisungen, von Jules neuem Handy, einer Software oder der elektrischen Zahnbürste, die er sich gekauft hatte. Auch damit konnte Jule leben.
Bis Sophie zur Welt gekommen war und alles wieder zu schwimmen begonnen hatte. Vermutlich lag es daran, dass Gerhard und sie inzwischen kaum noch richtig miteinander sprachen. Ohne ihre nächtelangen Diskussionen drohte Jule sich wieder in ihrem alten Ich zu verlieren. Wie früher fühlte sie sich überall nur zu Gast, im Märkischen Landmann, im Dorf, in Deutschland, im eigenen Leben.
Wieder spürte sie Gerhards Hand, diesmal sanfter, er rüttelte sie leicht an der Schulter.
»Überleg doch mal«, flüsterte er. »Das ständige Brummen der Windräder. Die Schatten. Das ist total gesundheitsschädlich. Willst du das für Sophie?«
Die Worte »gesundheitsschädlich« und »Sophie« ließen Jules Verstand in den nächsten Gang schalten. Sie schaute sich im Saal um. Es roch noch immer nach Bratenfett und war viel zu warm. Um sie herum saßen die Dörfler wie Vieh, das nicht wusste, ob es auf Schlachtbank oder Futter wartete. Vorne stand die Brillenschlange vor den Photos von Windmühlen im Sonnenuntergang.
Erst jetzt sickerte in Jules Bewusstsein, worum es tatsächlich ging. Sie rief sich den Blick aus dem Küchenfenster vor Augen. Das freundliche Wiegen des Weizens, das milde Licht, die aufgeklappte Allee. Mitten in das leicht ansteigende Feld setzte sie in Gedanken zehn große Windräder. Mit einem Schlag verloren Feld, Wald und Allee ihre Seele. Exit Landschaft, enter Windpark.
Jule sah ihren romantischen Garten, den Blauregen, die Stachelbeersträucher, die Himbeerhecke, die Wiesenblumen, die sie beim Mähen sorgfältig verschonte, und sie sah, wie gewaltige Schatten in gnadenlosem Takt über alles hinwegstrichen. Wie sie die Farben abtrugen. Die Vögel verscheuchten. Die Idylle in Scheiben schnitten. Zehn Meter weiter die grässliche Autowerkstatt, die brennenden Autoreifen, das Tier von nebenan. Erstaunt registrierte Jule ein feines Glühen irgendwo tief in ihrem Inneren. Ein erster Funke von Kampfbereitschaft.
Gerhard gab einen Laut der Überraschung von sich und deutete mit dem Kinn nach vorn. Dort war eine junge Frau aufgestanden, höchstens 25 und damit jünger als Jule. Eine ungewöhnliche Erscheinung in dieser Umgebung, lange blonde Haare, auffälliges blaues Kleid mit tiefem Ausschnitt.
»Mein Name ist Linda Franzen.«
Ihre Stimme klang heiser und war trotzdem bis in den hintersten Winkel zu verstehen. Jule bewunderte ihren Mut, vor dem versammelten Dorf zu sprechen. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie diese Linda noch nie gesehen hatte. Es konnte nur bedeuten, dass sie erst kürzlich zugezogen war. Also nach Sophies Geburt.
»Obwohl ich noch nicht lange hier lebe, kann ich jetzt schon sagen, dass ich Unterleuten liebe. Das soll mein Zuhause werden. Ich habe die Stadt verlassen, weil ich …«
Sie zögerte und hob beide Hände, nicht um Gott anzurufen, sondern um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen.
»Weil ich den Wahnsinn dort nicht mehr ertrug. Ich will meine Ruhe.«