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Linda Franzen zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Projektion an der Wand, eine moderne Jeanne d’Arc im blauen Kleid.

»So etwas wird in Städten beschlossen und auf dem Land gebaut. Jeder weiß, dass die Dinger nichts taugen. Damit wird einfach nur Geld verdient auf Kosten der Steuerzahler. So etwas brauchen wir hier nicht!«

Sie setzte sich unter anhaltendem Beifall.

»Wer ist das?«, fragte Jule leise.

»Das ist die Neue«, sagte Gerhard, ohne das Applaudieren zu unterbrechen. »Aus der Villa Kunterbunt.«

Erstaunt blickte ihn Jule von der Seite an.

»Du meinst die Pferdezüchterin? Der du die Koppelzäune verbieten willst?«

Gerhard antwortete nicht. Er nickte im Takt seiner klatschenden Hände.

8 Wachs

Als Linda sich wieder setzte, nahm Frederik sie in den Arm. Er küsste sie auf die Wange und spürte, wie heiß ihr Gesicht war. Das konnte sie: auf eine Weise reden, dass alle zuhörten. Bei ihrem Pferdetraining dauerte es keine fünf Minuten, bis die Kunden an ihren Lippen hingen. Frederiks Eindruck war, dass auch die Pferde ihr zuhörten, jedenfalls drehten sie die Ohren immer in Lindas Richtung. Sie war überzeugt, dass ihre Methode bei allen Lebewesen funktionierte, und inzwischen glaubte Frederik das auch. Als sie beschlossen hatte, das Pferdeflüstern zum Beruf zu machen, hatte er sich anfangs heimlich über sie amüsiert. Bis sie eines Tages in eine Situation gerieten, in der ihm das Lachen verging.

Sie waren gerade nach Berlin gezogen und kamen eines Nachts von einer Party zurück, als ihnen am Kottbusser Tor drei Halbstarke den Weg versperrten. Sie standen vor der Tür zur U-Bahn-Station; Frederik und Linda wollten zum Bahnsteig hinauf. Offensichtlich ging es darum, Ärger zu machen, einfach so. Ist das deine Freundin, leih uns die doch mal, dann lassen wir dich in Ruhe. Zweimal versuchte Frederik, an den Typen vorbeizukommen, dann hatte ihn der kleinste an der Jacke gepackt. Frederik hob beide Hände und wollte sich abwenden, aber es war zu spät. Sie hatten ihn von drei Seiten eingekeilt. Wer nicht hören will, muss fühlen.

Da machte Linda plötzlich einen Ausfallschritt. Sie hatte den Kleinen als Anführer der Gruppe identifiziert, fasste ihn am Ärmel und zog ihn mit einem kleinen Ruck auf sich zu. Die unerwartete Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Im selben Augenblick hob Linda die Hand, und der Kleine versuchte instinktiv, nicht gegen sie zu taumeln, und verlagerte sein Gewicht nach hinten. Als sie vortrat, wich er aus. Starr blickte sie ihm in die Augen, tat einen weiteren Schritt nach vorn, dann noch einen, der Typ ging weiter rückwärts, als vollführten sie einen Tanz. Frederik erinnerte sich an den Gesichtsausdruck des Kleinen. Die Aggression war verschwunden und hatte einer Art Entspannung Platz gemacht; die Unterlippe hing leicht herab. Linda hielt an, auch der Kleine blieb stehen. Mit einem deutlichen Ausatmen ließ sie die Spannung sinken und bedankte sich, wie sie es auch bei ihren Pferden tat: »Ja. Gut. Danke schön.« Dann wartete sie, bis der Kleine ihr die Tür zur U-Bahn-Station öffnete, und betrat gemeinsam mit Frederik das Gebäude.

Sie hatten nie darüber gesprochen, was am Kottbusser Tor passiert war. Für Linda schien es nichts Besonderes gewesen zu sein. Vermutlich hatte sie die Situation noch nicht einmal als riskant empfunden, weil sie, wie Frederik wusste, mit dem Begriff Risiko nicht viel anfangen konnte. In Lindas System existierten verschiedene Stufen der Beherrschbarkeit, und wenn die Beherrschbarkeit verloren ging, musste ein Geschehen unverzüglich beendet werden, ganz einfach. Einer ihrer Leitsätze, die sie einem schrecklichen Buch namens »Dein Erfolg« entnahm, lautete sinngemäß: »Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.« Anders als Frederik hatte Linda nie daran gezweifelt, dass es sich bei dem, was sie tat, um ein echtes Handwerk handelte. Ihr Beruf bestand darin, Wesen zu bewegen, die hundertmal stärker waren als sie. Inzwischen bewunderte Frederik ihre Technik. Allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze. Dahinter begann der Irrsinn. Das Projekt Konrad Meiler war dabei, diese Grenze hinter sich zu lassen.

Noch während applaudiert wurde, neigte sich Meiler zur Seite und sagte Linda etwas ins Ohr, wobei er einen weiteren Blick in ihren Ausschnitt warf. Inzwischen musste er die Form ihrer Brüste aus dem Gedächtnis zeichnen können. Den ganzen Tag hatte sich Linda um ihn gekümmert. Seit dem Moment, als Meiler in seinem Angeberauto auf der gekiesten Einfahrt von Objekt 108 vorgefahren war, entfaltete sich vor Frederiks Augen eine Choreographie, der er zuerst mit Faszination, dann mit wachsendem Ekel zusah.

Vom Wohnzimmerfenster hatten sie gemeinsam beobachtet, wie Meiler bei ausgestelltem Motor am Steuer sitzen blieb und verschiedene Schalter und Regler betätigte wie der Pilot eines Airbus, der einen komplizierten Computer herunterfahren muss, bevor er aussteigen darf. Dann schwang die Fahrertür auf, und ein gut geputzter Schuh wurde auf den Kies der Einfahrt gestellt. Meiler blickte sich um, unsicher, ob er das richtige Haus erwischt hatte. Zögernd näherte er sich dem Eingang und stieg die Stufen hinauf. Gerade als er feststellte, dass es keine Klingel gab, öffnete Linda die Tür von innen. Erschrocken trat Meiler einen Schritt zurück. Lindas Lächeln signalisierte kein Willkommen, sondern Freude über ihren ersten Sieg.

Sie führte ihn durchs Haus, durch den Garten, schritt jeden Meter des Grundstücks mit ihm ab, navigierte ihn hierhin und dorthin. Sie kam ihm zu nah, so dass er auswich, fasste seinen Arm, um den Meiler-Körper in eine neue Richtung zu drehen, ließ ihn zurücktreten und führte ihn gleich darauf wieder nach vorn. Meiler hörte zu, gehorchte, ließ geschehen. Erst wirkte er verwundert, dann verunsichert, schließlich schien er sich pudelwohl zu fühlen. Ohne jede Scham betrachtete er Lindas Dekolleté, das offensichtlich zu diesem Zweck dargeboten wurde. Währenddessen erläuterte Linda ihre Pläne. In schillernden Farben ließ sie die künftige Pferdezucht entstehen, aufgebaut auf der DNA eines Wundertiers namens Bergamotte. Ausführlich schilderte sie, wie die Nebengebäude zu Stallungen ausgebaut würden, wo das Heu lagern sollte, in welcher Ecke sie eine Pferdewaschanlage plante. Zwischendurch ließ sie ihm Zeit, den romantischen Anblick der wilden Brombeeren zu bewundern.

Einstweilen tat Frederik dieses und jenes, immer in der Nähe, um das seltsame Paar im Auge zu behalten. Meiler war kleiner als Linda und fast kahl. Rund wie eine Bowlingkugel saß der von Sonne und Blutdruck gerötete Kopf auf dem kurzen Hals. Obwohl es heiß war, gab er das karierte Freizeit-Sakko nicht aus der Hand. Vielleicht glaubte er, dass Himmel, Horizont und hohes Gras von einem Mann wie ihm verlangten, mit über die Schulter geworfenem Jackett in ihrer Mitte zu stehen.

Die ganze Szene war schwer zu ertragen. Aber Frederik respektierte, dass Linda ihre Interessen durchsetzte. Dass der Kerl, den sie einwickeln musste, ein besonders widerliches Modell darstellte, war nicht ihre Schuld.

Den Blick über Meilers Land, das direkt an den Garten von Objekt 108 grenzte und in Pferdeweiden umgewandelt werden sollte, hatte sich Linda für den Schluss aufgehoben. Nebeneinander stützten Meiler und sie die Arme auf den Bretterzaun, der die Grundstücksgrenze markierte. Dahinter streckte sich eine weite Wiesenfläche, über die Wolkenschatten zogen, als grasten dort bereits die Zukunftsgeister von Bergamottes Nachkommenschaft. Alles, was Meiler jetzt sehen konnte, gehörte ihm. Nachdenklich ging sein Blick über den Landstrich hin. Man sah ihm an, dass er etwas fühlte, auch wenn unklar blieb, was das war.

Linda wandte sich zu Frederik um, machte eine unbestimmte Geste, die vermutlich »so weit, so gut« bedeuten sollte, und ließ Meiler für ein paar Minuten allein, damit in Ruhe wirken konnte, was sie ihm eingeträufelt hatte. Als Frederik sie in den Arm nehmen wollte, schob sie ihn weg und erteilte Anweisungen: Weißwein, Kartoffelsalat, anschließend Kaffee und Kuchen. Stand alles in der Küche bereit, nur noch anrichten und unter den Robinien servieren. Linda wirkte angespannt, aber nicht unzufrieden. Frederik verschwand wie befohlen im Haus, um den Imbiss vorzubereiten.