Nebenan war Karl im Garten damit beschäftigt, die Holzkonstruktion seines Tipis neu zu streichen. Er trug eine Weste und Shorts aus Wildleder. Das lange, schwarz gefärbte Haar hatte er zum Pferdeschwanz gebunden. Die Außenhaut des Tipis bestand aus Segeltuch und war innen isoliert, den Boden hatte Karl mit Fellen ausgelegt. In der Mitte eine Feuerstelle. Selbst im Winter verbrachte er die Nächte im Freien. Einmal hatte er geräucherten Rehrücken herübergebracht, der phantastisch schmeckte und, wie Karl mit einem Augenzwinkern betonte, unmittelbar aus der Region stammte. Frederik fragte sich, wer eigentlich verrückter war: Karl mit seinem Indianer-Spleen oder Linda, die eine generalstabsmäßige Offensive plante, um einem steinreichen Unternehmensberater ihren Willen aufzuzwingen. Immerhin hielt Frederik es für möglich, dass sie tatsächlich gewonnen hatte. Als er mit dem Tablett in den Garten kam, saßen Meiler und Linda einträchtig wie alte Freunde unter den Bäumen. Frederik deckte auf, goss Weißwein ein, verteilte den Salat. Das Hausmädchen zu spielen machte ihm nichts aus. Das war Teil von Lindas Inszenierung, die mit jeder Geste sagte: Die Chefin bin ich.
Dann aber fiel ihm auf, dass Meiler jede seiner Bewegungen mit geradezu wissenschaftlichem Interesse registrierte. Sein Blick war nicht mitleidig oder gar verächtlich, sondern anerkennend, amüsiert und ein wenig gerührt. Es war die Miene eines Profis, der Nachwuchskünstlern bei einer ambitionierten Darbietung zusieht.
Mit einem Mal wusste Frederik, was passieren würde. Meiler war nicht hier, um sich von irgendetwas überzeugen zu lassen. Er genoss Sonne, Salat und sorgfältig in Szene gesetzte Brüste, aß mit Appetit und freute sich an Lindas Eifer. Danach würde er sie kaltlächelnd ins offene Messer rennen lassen. Beim nächsten Blickkontakt signalisierte Meiler mit breitem Lächeln, dass er erkannt hatte, dass Frederik ihn durchschaute. Offensichtlich gefiel ihm die Anwesenheit eines Zuschauers.
Frederik wollte Linda warnen, aber es war zu spät. Nachdem alle den Kuchen probiert und gelobt hatten, lehnte sie sich zurück, schlug nach Männerart ein Bein mit abgespreiztem Knie über das andere, wobei der Rock fast ihren gesamten Oberschenkel freilegte, und fragte:
»Und, Herr Meiler, gefällt es Ihnen hier?«
»Ganz ausgezeichnet.« Meiler nickte im Takt seiner Kaubewegungen.
»Als Firmengründer haben Sie natürlich ein besonderes Gespür dafür, was es bedeutet, sich eine Existenz aufzubauen.«
»Absolut.« Meiler nahm den nächsten Schluck Kaffee und ließ seine Augen wohlwollend auf Linda ruhen.
»Dann sind Sie bereit, mich zu unterstützen.«
»Wenn ich kann.«
Über Lindas Gesicht ging ein Lächeln reinsten Triumphs. Mit gewaltiger Kraftanstrengung hatte sie den Gedanken an den Brief der Vogelschützer, über den sie am Morgen außer sich geraten war, beiseitegedrängt und sich auf das Projekt Konrad Meiler gestürzt, kühl und konzentriert wie eine Leistungssportlerin. Jetzt beging sie den Fehler, vor der Ziellinie die Arme hochzureißen. In aller Unschuld erwiderte Meiler ihr strahlendes Lächeln. Frederiks Eingeweide zogen sich vor Hass zusammen.
»Wunderbar.« Linda hielt Meiler ihr Weinglas entgegen. Er stieß mit ihr an.
»Dann müssen wir uns nur noch über den Preis unterhalten«, sagte sie.
»Preis für was?«
Linda hielt inne, das Glas vor dem Gesicht. Offensichtlich fragte sie sich, ob er tatsächlich so begriffsstutzig sein konnte.
»Für die vier Hektar, die ich Ihnen abkaufen möchte.«
»Aber, Frau Franzen.« Meiler biss in seinen Kuchen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht verkaufe.«
»Meinten Sie nicht gerade eben, dass Sie bereit wären, mich zu unterstützen?«
»Ich sagte: Wenn ich kann. Verkaufen kann ich nicht, und das wissen Sie bereits.«
Frederik sah, wie Linda ausatmete und sich verbot, gleich wieder Luft zu holen. Jetzt würde sie langsam bis dreißig zählen, bevor sie den nächsten Atemzug tat. Auch Gefühle unterdrücken gehörte zu ihrem Selbsterziehungsprogramm. Anscheinend hielt »Dein Erfolg« irgendeine Technik dafür bereit.
Das Kunststück gelang. Linda rastete nicht aus. Sie schrie Meiler nicht an. Sie fragte nicht einmal, was zum Teufel er überhaupt hier wolle. Jede seiner Antworten hätte sie nur weiter erniedrigt. Stattdessen griff sie nach dem Kuchenteller.
»Darf ich Ihnen noch ein Stück anbieten?«
Meiler ließ sich Kaffee nachschenken und vertilgte ein zweites Stück Kuchen. Offensichtlich schmeckte es ihm, die Landluft machte hungrig.
Wenig später spülte Frederik in der Küche Geschirr, als Linda hereinkam. Sie reichte ihm einen Autoschlüssel. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass der Schlüssel nicht zum Frontera, sondern zu einem Mercedes gehörte.
»Geh vors Haus und schütte ihm zwei Liter Wasser in den Tank.«
Entgeistert starrte Frederik sie an.
»Das ist nicht dein Ernst.«
Linda schnappte sich zwei leere Mineralwasserflaschen und füllte sie an der Spüle.
»Davon geht der Wagen nicht kaputt«, sagte sie. »Ich will nur, dass Meiler noch ein paar Stunden in Unterleuten bleibt.«
»Wozu denn? Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«
»Wenn ›nein‹ immer ›nein‹ heißen würde, gäbe es keinen Fortschritt auf der Welt.«
»Linda, der Typ ist eiskalt.«
»Und ich?«, fragte sie.
Darauf wusste Frederik keine Antwort. Er nahm die Wasserflaschen und ging über den Flur zum Wintergarten, vor dem die Angeberkarre parkte. Nachdem er den Inhalt beider Flaschen in den Tank geleert hatte, schloss er wieder ab und hoffte, dass das Zwitschern der Zentralverriegelung nicht bis in den Garten zu hören war. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Nicht das Auto machte ihm Sorgen, sondern Linda. Sie übertrieb. In Bezug auf Meiler, aber auch ganz allgemein. Mit dem Haus, dem Dorf, ihren Zukunftsplänen. Seit sie Objekt 108 übernommen hatten, lief sie mit zu hoher Drehzahl. Ihre Augen und Lippen glänzten wie im Fieber. Sie schlief wenig und aß wie eine Maschine. Wenn Frederik sie einfing und festhalten wollte, begann sie nach wenigen Sekunden in seinen Armen zu zappeln, wand sich los und lief davon.
Jetzt saß sie neben ihm in diesem viel zu heißen Tanzsaal und tuschelte weiter mit Meiler, statt den Mann, der ihren Herzenswunsch mit Füßen getreten hatte, zum Teufel zu jagen. Frederik wusste nicht einmal, was sie bei der Versammlung wollten. Glaubte Linda wirklich, Meiler könnte sich wie durch ein Wunder doch noch in ihren Wohltäter verwandeln? Weil er die Gelegenheit bekam, Unterleuten beim Dorf-Sein zu beobachten, und das Ganze irgendwie lustig fand? Weil die Fritten gut schmeckten und Linda beeindruckende Spontanvorträge hielt?
Vermutlich fehlte ihr einfach die Exit-Strategie. Sie konnte nicht akzeptieren, verloren zu haben, weil Niederlagen in ihrem Weltbild nicht vorkamen. Und wenn es um Bergamotte ging, war sie noch sturer als sonst. Unbeirrt ging sie weiter auf dem eingeschlagenen Weg, als müsste man nur lang genug gegen Mauern rennen, um irgendwann ans Ziel zu kommen. Bergamotte war eine Obsession. Für dieses Pferd hatten sie ein Haus am Ende der Welt gekauft. Für das Pferd schüttete Frederik einem Unternehmensberater Wasser in den Tank und verbrachte den Abend zwischen grölenden Dörflern bei einem Vortrag über erneuerbare Energien. Er hatte niemals befürchtet, ein anderer Mann könnte ihm Linda wegnehmen. Sein wahrer Widersacher stand auf einer Weide in der Nähe von Oldenburg, ließ das cremefarbene Fell in der Sonne leuchten und warf wiehernd den Kopf hoch, wenn Linda auftauchte, um ihn zu besuchen. Manchmal stellte Frederik sich vor, wie Linda von einem sadistischen Erpresser mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, sich zwischen ihrem Freund und ihrem Pferd zu entscheiden. Deutlich konnte er vor sich sehen, wie sie ihm einen bedauernden Blick zuwarf und die Arme um den muskulösen Hals des Pferdes legte.
Eine Zeitlang hatte Frederik massive Lust verspürt, Bergamotte einen mit Rattengift versetzten Eimer Hafer auf die Wiese zu stellen. Als der Drang schier unwiderstehlich wurde, suchte er Rat in der größten Selbsthilfegruppe der Welt, dem Internet. Er gab »Frau« und »pferdeverrückt« als Suchbegriffe ein und klickte sich durch eine hirnzersetzende Mischung aus Reitermagazinen, Kontaktanzeigen und Pornoangeboten, bis er schließlich auf www.reiterrevue.de ein Forum fand, das unter der Überschrift »Rossfrauen« genau sein Problem behandelte. Die exakte Übereinstimmung zwischen seinen eigenen Erfahrungen und dem, was er dort las, ließ ihn nicht mehr los. Die meisten Diskutanten waren Männer. Alle lebten mit einer Reiterin zusammen. Alle fanden es demütigend, öffentlich zuzugeben, dass sie auf einen stinkenden Vierbeiner eifersüchtig waren. Alle zweifelten gelegentlich am eigenen Geisteszustand, was jedoch nichts an den Fakten änderte: Ihre Frauen liebten das jeweilige Pferd mehr als sie.