Dass die Teilnehmer »man(n) muss wissen« schrieben, nervte Frederik nicht weniger als das weibliche Pendant »frau weiß nie« in feministischen Quasselgruppen. Trotzdem hatten seine Schicksalsgenossen recht mit ihrer Analyse. Der Kern des Problems bestand darin, dass »man(n)« mit einer fremden Spezies konkurrieren musste. Man(n) konnte von Natur aus nicht größer, schneller, behaarter, muskulöser sein als ein Pferd. Jede Form von Wettkampf war chancenlos.
Deshalb hatte das Forum eine Verteidigungsstrategie entwickelt, der Frederik, wie er im Nachhinein glaubte, das Fortbestehen seiner Beziehung verdankte. Ausgangspunkt war eine simple Erkenntnis: Einen Feind, den man nicht besiegen konnte, musste man lieben lernen. Das Konzept hieß »distanzierte Anteilnahme« und bestand aus einem Set von klaren Verhaltensregeln.
Zeige niemals Eifersucht, geschweige denn Ablehnung, Kritik oder auch nur Zweifel am Pferd. Mach dich aber auch nicht mit dem Pferd gemein. Versuch nicht, reiten zu lernen. Lass dich nicht zum Stallburschen erziehen. Beschränke deine Stallbesuche auf maximal vierzehntägige Frequenz. Reagiere gelassen, wenn man deinen Respekt vor einem 600 Kilo schweren Muskelpaket als Feigheit verspottet. Merke dir Grundbegriffe aus Reiterei und Pferdekunde und platziere sie maßvoll und beiläufig in euren Gesprächen. Hör zu, wenn dir die Rossfrau vom Pferd erzählt, auch wenn es eine Stunde dauert. Lobe die Fortschritte von Pferd und Rossfrau, auch wenn du nichts davon siehst. Komm nicht auf die Idee, dich an Stallfreundschaften der Rossfrau zu beteiligen; diese werden sich ohnehin über kurz oder lang in bösartige Intrigen auflösen. Beschwere dich nicht über den Geruch der Rossfrau und auch nicht über ihre Stiefel, die vor der Heizung trocknen. Schenke ihr zu jedem Geburtstag eine Regen-, Sommer-, Fliegen-, Thermo- oder Abschwitzdecke, ohne zu fragen, warum das Pferd mehr Jacken braucht als du. Dass der Reitsport schweineteuer und saugefährlich ist, weiß jeder. Es bringt nichts, das Offensichtliche zu wiederholen. Und zum Schluss: Nicht du bist verrückt, sondern die Rossfrau. Liebe sie trotzdem, es ist deine.
Das Konzept distanzierter Anteilnahme gab Frederik den Humor zurück. Die Forumsteilnehmer tauschten Anekdoten über völlig verhaarte Waschmaschinen oder von Lederzeug besetzte Garderoben aus. Jede Anekdote endete allerdings mit der Feststellung, warum es sich trotzdem lohnte, eine Rossfrau zu lieben: Ihr Hintern blieb bis ins hohe Alter straff, sie wollte keine Kinder und ging nicht fremd.
Irgendwann hörte Frederik auf, das Forum zu besuchen. Der quälende Eindruck, Beziehungsprobleme ohne Beziehung zu haben, hatte sich in Luft aufgelöst. Von nun an betrachtete er Bergamotte als das wichtigste Mittel, um Linda glücklich zu machen. Zu seiner eigenen Überraschung stellte er fest, dass er dem Pferd gegenüber sogar eine Art Sympathie entwickelte. Als Linda Bergamotte in Oldenburg zurückließ, um Frederik nach Berlin zu folgen, stellte diese Entscheidung mangels Krieg schon keinen Sieg mehr dar.
Der Fall war klar: Frederik konnte nicht ohne Linda leben und Linda nicht ohne Bergamotte, also brauchten sie einen Ort, an dem die Rechnung aufging. In diesem Sinne war Unterleuten eine bewohnte Pferdeweide und Objekt 108 der Anbau eines Pferdestalls. Frederik hatte nichts gegen Unterleuten und nichts gegen das Haus, auch wenn er nie verstehen würde, warum man ein Gebäude mit so vielen Fenstern ausstattete, dass sich nirgendwo ein vernünftiger Schrank hinstellen ließ. Seine Heimat aber befand sich in der Stadt, genauer gesagt, an einem Schreibtisch mit Monitor und fußläufigem Zugang zu Dönerbude, Tabakladen und Kneipe, möglichst auch nachts um halb vier. Dass er trotzdem bereit war, seine berufliche Zukunft zu verpfänden, um einem Pferd ein Haus zu kaufen, hatte er dem Konzept distanzierter Anteilnahme zu verdanken.
Während im Saal gelacht wurde, ohne dass Frederik den Witz verstanden hatte, begann er langsam zu begreifen, warum ihm das Projekt Konrad Meiler solches Unbehagen bereitete. Er war in der Lage gewesen, es mit einem Pferd aufzunehmen. Aber ein Haus oder gar ein ganzes Dorf durch distanzierte Anteilnahme zu besiegen, überstieg seine Kräfte. Lindas Pläne hatten die ursprüngliche Idee, ein Zuhause für Bergamotte zu schaffen, längst hinter sich gelassen. Sie drehte frei. Sie folgte blind den Anweisungen ihres verrückten Lieblingsbuchs, das Frederik nie gelesen hatte, weil schon die Kapitelüberschriften Brechreiz verursachten. »Moral ist für die Schwachen«, »Die Kosten-Nutzen-Bilanz der Gefühle«. Das Projekt Konrad Meiler würde in die Katastrophe führen. In Berlin liefen nicht wenige Leute herum, die nach erfolglosem Ausstiegsversuch zurück in die Stadt gezogen waren. Gescheitert waren sie nicht an einstürzenden Dächern oder vollgelaufenen Kellern, sondern an den Nachbarn. Was Dorfangelegenheiten betraf, gab es eigentlich nur ein Rezept: Raushalten. Das musste er Linda beibringen, und zwar schnell, bevor sie über ihrem Fanatismus den Verstand verlor.
Gerade strich sie Meiler über den kugeligen Glatzkopf, als müsste sie eine Fliege verjagen, was dieser lächelnd geschehen ließ. Frederik sah, dass sie vor Nervosität am ganzen Körper bebte und zwischen den Atemzügen die Luft anhielt, um ihren Herzschlag künstlich zu verlangsamen. Bei einer Dorfversammlung als Erste den Mund aufzumachen stellte das Gegenteil von Raushalten dar. Dass sie ihre Ansprache nur gehalten hatte, um Meiler zu beeindrucken, machte die Sache nicht besser. Frederik nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen.
Auf der anderen Seite des Saals stand ein Mann auf. Lindas Finger gruben sich in Frederiks Unterarm.
»Das ist der Mistkerl«, flüsterte sie aufgeregt. »Der will mir die Koppelzäune verbieten.«
Groß gewachsen und schlank, mit elegant angegrauten Haaren bot der Mann eine angenehme Erscheinung, wenn er auch zu nervös wirkte, um wirklich gutaussehend zu sein. Er stellte sich als »Gerhard Fließ von der Vogelschutzwarte« vor und hob einen langen Arm, um sich mit dem Taschentuch die Stirn zu wischen. Neben ihm saß eine junge Frau, hielt ein Baby auf dem Schoß und schaute zu ihrem Mann auf, als schickte der sich an, das Evangelium zu verkünden. Die Sorte Frauen kannte Frederik und hatte sie schon zu Schulzeiten nicht gemocht. Sie färbten ihr Haar mit Henna und batikten ihre Kleider und glaubten deshalb, dass sie auf der guten Seite der Welt standen, und zwar immer.
»Meine Vorrednerin hat etwas sehr Kluges geäußert«, sagte Gerhard Fließ und deutete mit einer vagen Bewegung in Lindas Richtung. »Projekte wie dieses werden in Städten beschlossen, von Leuten, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind.«
»Siehst du, er lobt dich«, flüsterte Frederik beruhigend und streichelte Lindas Handrücken, um danach vorsichtig ihre Finger aus seinem Unterarm zu lösen.
»In der Tat. Seltsam.«
Linda nickte nachdenklich und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Tonfall verriet, dass das Ziel, ein wenig Ruhe in die Unterleuten-Sache zu bringen, in rasendem Tempo in immer größere Ferne rückte.
9 Gombrowski, geb. Niehaus
»Das europäische Vogelschutzreservat Unterleuten ist eins der letzten Einstandsgebiete der Kampfläufer. Gleichzeitig bietet die Unterleutner Heide Lebensraum für einzigartige Bestände an Rotmilanen, Störchen, und, wie die Anwesenden wahrscheinlich wissen, seit dem Jahr 2006 sogar für ein Pärchen Seeadler. Neuere Studien beweisen, dass Windkraftanlagen erhebliche Auswirkungen auf Brut-, Gast- und Zugvögel haben.«