»Herr Fließ …«, begann der Junge mit der Nickelbrille. Pilz hieß er wohl; Elena hatte nicht besonders gut aufgepasst. Seit der Vogelschützer sprach, streichelte der Pilzjunge seinen Beamer, als handelte es sich dabei um ein Exemplar der so gut wie ausgestorbenen Kampfläufer.
»Zum einen geht es um das Unfallrisiko. Das Rotorblatt eines Windrads trifft mit 230 km/h auf den Körper eines Zugvogels. Da bleibt nicht viel übrig.«
Im Saal reagierten einige weibliche Stimmen mit erschrockenen Ausrufen. Der Vogelschützer machte eine Kunstpause, um den Effekt wirken zu lassen. Sofort nutzte der Pilzjunge die Gelegenheit.
»Herr Fließ«, sagte er in sein Mikrofon, »Sie wissen so gut wie ich, dass diese Studien umstritten sind.«
»Zum anderen«, der Vogelschützer wurde lauter, »gibt es die Scheuchwirkung auf rastende Vögel. Gänse, Schwäne und Watvögel meiden die Umgebung von Windkraftanlagen.«
»Die Vento Direct«, sagte der Pilzjunge, ebenfalls lauter, »räumt Naturschutzbelangen höchste Priorität ein.«
»Wenn die Vögel ihre Rastplätze verlieren, verliert Unterleuten seine Vögel!«
»Herr Fließ, hören Sie auch mal zu?«
»Hör du doch zu!« Das war Oma Rüdiger. Neben ihr begann Opa Margot zu applaudieren. Halb erhob er sich dabei von seinem Platz in der ersten Reihe und wandte sich dem Saal zu, um auch die anderen zum Klatschen zu animieren. Ein paar Unterleutner fielen ein, hörten aber bald wieder auf, als klar wurde, dass die Schwelle zu einem echten Applaus nicht überschritten würde. Aber wenn Oma Rüdiger entschieden hatte, dass der Vogelschützer vielleicht ein Fremder, aber immer noch weniger fremd als der Pilzjunge war, würde es ohnehin nicht lange dauern, bis Ärger losbrach.
»Nirgendwo im Land gibt es noch Kampfläufer«, fuhr der Vogelschützer fort. Offensichtlich hatte er Übung darin, zu tauben Ohren zu sprechen. »Nur hier. 33 Individuen.«
»Unsere Standortplanung wurde naturschutzrechtlich geprüft. Ich versichere Ihnen …«
»Die Kampfläufer machen uns zu etwas Besonderem«, rief der Vogelschützer, bemüht, die Mikrofonstimme des Pilzjungen zu übertönen. »Dafür schulden wir ihnen Schutz!«
»So ist es! Die armen Vögel!«, rief Oma Rüdiger.
Dieses Mal klappte es, der anfeuernde Tonfall tat seine Wirkung. Applaus brach los. Auch Elena klatschte mit. Ihre Arme und Hände machten sich selbstständig, als gehorchten sie immer noch dem Zentralkomitee.
Dabei war natürlich klar, dass sich keiner der Anwesenden für Kampfläufer interessierte. Die Vogelschützer waren Sonderlinge, belächelt, solange sie mit ihren Ferngläsern und Photoapparaten durchs Unterholz krochen, verflucht, wenn sie sich in die Bauvorhaben der Dorfbewohner einmischten. Als Elena bemerkte, dass Gombrowski neben ihr über fest verschränkten Fingern vor sich hin brütete wie beim Weihnachtsgottesdienst, ließ sie das Klatschen in ein Händereiben übergehen, strich den Stoff ihres Rocks glatt und schob die Hände unter die Oberschenkel.
»Regenerative Energiegewinnung«, sagte der Pilzjunge in den Applaus hinein. »Das entspricht dem Willen der Landesregierung. Das kommt von ganz oben.«
»In den Vögeln wohnen die Seelen der Toten.« Karl, der Indianer, hatte sich für seinen Redebeitrag vom Stuhl erhoben und mit ruhiger Stimme gesprochen. Mit einer kleinen Verbeugung setzte er sich wieder hin. Normalerweise lachte das Dorf über ihn; jetzt wurde geklatscht.
»Genug gelabert!« Das war die Stimme von Lorenz, der in derselben Reihe saß wie Elena und bereits drei leere Bierkrüge unter seinem Stuhl stehen hatte. Die Aussicht auf leicht verdienten Applaus holte auch jene, die nichts zu sagen hatten, von ihren Stühlen.
»Keiner hier will deine Scheiße!«, brüllte Thomas, der Bäcker. Jede Nacht musste er um Viertel nach drei das Haus verlassen, damit er um vier Uhr früh in seiner Backstube in Plausitz stand. Ab sieben am Abend zählte er die Minuten des verbleibenden Nachtschlafs und wurde immer nervöser. Jetzt war es fast neun.
»Die Vogelschutzwarte Unterleuten wird dieses Vorhaben nicht zulassen«, sagte der Vogelschützer und setzte sich unter anhaltendem Beifall.
»Sie begreifen nicht, dass die Windenergie auf jeden Fall kommt, ob Sie wollen oder nicht«, sagte der Pilzjunge. »Ich bin hier, um gemeinsam mit Ihnen den besten Weg zu finden.«
»Bester Weg am Arsch!« Thomas fuchtelte in der Luft herum.
Auch Lorenz reckte die Faust.
»Wir zeigen dir den besten Weg! Und zwar vor die Tür!«
Damit erntete er die finale Lachsalve, der Saal schmolz im Getöse zu einer siedenden Masse. Daniel, Timmy und Mark waren auf den Beinen, stießen sich gegenseitig in die Seiten und drängten nach vorn. Hugo, der in der Nähe saß, packte Timmy am Hosenbund und versuchte, ihn zurück auf seinen Stuhl zu ziehen.
»Steffen«, rief Arne, »du kriegst jetzt sofort deine Leute in den Griff.«
»Hinsetzen!«, brüllte Steffen mit einer Stimme, die daran gewöhnt war, ganze Baustellen zu beschallen.
Elena war froh, dass sie auf ihren Händen saß. Andernfalls hätte sie sich vor Schreck die Ohren zugehalten, und dann hätte Gombrowski ihr sein schweres, weiches Gesicht zugewandt und sie ärgerlich angesehen.
Sie ertrug kein Geschrei und schon gar keine Gewalt. Jedes laute Wort erschütterte sie bis ins Mark, jede erhobene Faust fuhr ihr direkt in die Eingeweide. Im Lauf der Jahre hatte sich Elena in ein Auffangbecken für böse Worte und rüde Gesten verwandelt. Jede Form von Brutalität floss in ihre Richtung. Beschimpfungen, Drohungen, Schläge meinten immer sie. Als Püppi ins Trotzalter gekommen war und anfing, ihrem Papa Widerworte zu geben, hatte Elena gelernt, die gesamte zerstörerische Energie von Gombrowskis Wut auf sich selbst zu lenken. Fuhr eine Hand durch die Luft, stand Elena im Weg, um dem Streich eine Richtung zu geben. Es wurde zu ihrer Lebensaufgabe, Ursache und Ziel aller Gewalt zu sein, weil jeder Schlag, der sie traf, ihre Tochter verschonte.
Inzwischen lebte Püppi in Freiburg, meldete sich selten und kam noch seltener zu Besuch. Selbst wenn Elena nie wieder etwas von ihr gehört hätte – sie war dankbar für jeden Kilometer, der ihr Kind von Unterleuten trennte.
Heute gab es eigentlich wenig Grund, sich vor Gombrowski zu fürchten. Das Alter beruhigte ihn. Er gab sich Mühe, ihr im Haushalt möglichst wenig zur Last zu fallen. Er beschränkte Hildes Besuche auf die Nachmittage, an denen Elena zum Doppelkopf mit dem Frauenclub verabredet war, und beseitigte sämtliche Spuren, bevor sie zurückkam. Mit Fidi konnte er sogar richtig zärtlich sein, was ihm gegenüber Frau und Tochter nie gelungen war. Trotzdem konnte Elena nicht aufhören, ihn als tickende Zeitbombe zu betrachten. Als er sie einmal am Sonntag mit Frühstück im Bett überraschte, hatte sie keinen Bissen heruntergebracht. Je durchdringender er sie ansah, desto größer wurde ihre Angst. Sie rechnete damit, er würde ihr jeden Augenblick die Kanne mit heißem Kaffee auf den Kopf schlagen. Als er ihr endlich das kaum berührte Tablett abnahm und das Schlafzimmer verließ, bebte sie unter der Bettdecke von Kopf bis Fuß.
Bis heute war es ihr nicht gelungen, ihrem Schweigen den vorwurfsvollen Klang abzugewöhnen. Wenn sie sich aufrichtete, verlangte ihr Körper, sich gleich wieder wegzuducken. Sobald irgendwo ein Mann wütend wurde, hörte sie hinter sich ein kleines Mädchen weinen.
Steffen musste kein zweites Mal laut werden, seine Zementpanscher saßen schon wieder auf ihren Plätzen. Die beiden Richards waren Richtung Gastraum verschwunden und kamen mit einem Rad Schnäpse zurück. Stühle wurden zurechtgerückt, Kleidungsstücke geordnet. Arne schüttelte den Kopf und sortierte seine Unterlagen. Der Pilzjunge hatte den Beamer losgelassen, lehnte am Tisch und schob sich mit dem Mittelfinger die Brille auf der Nase hoch. Offensichtlich machte ihm der Tumult nicht das Geringste aus. Elena schaute ein zweites Mal hin – tatsächlich wirkte er nicht verängstigt oder auch nur erschöpft. Eher gelangweilt wie ein Schauspieler, der in einem hundertmal gespielten Stück auf den nächsten Einsatz wartet.