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Auf der anderen Seite des Waldstücks ging die Birnenallee weiter, vernetzte sich mit anderen Straßen, Apfelalleen, Pflaumenalleen, Kirschalleen, Mirabellenalleen, und so reiften im ganzen Landkreis abertausend Tonnen Obst heran, wurden prächtig und schwer, bis sie im Herbst herunterfielen und an den Straßenrändern verrotteten, weil es der Natur gleichgültig war, ob der Mensch ihre Produkte brauchte oder nicht. Noch waren die Birnen klein und grün, aber es war abzusehen, dass die Bäume in zwei Monaten unter der Last ihrer Früchte schier zusammenbrechen würden. Im April und Mai hatte es viel geregnet; nun herrschte seit Wochen Trockenheit, die Hitze lag wie ein unsichtbarer Deckel auf der Landschaft. Der Weizen stand hoch und wurde vom leichten Wind in Wellen bewegt wie die Oberfläche eines Sees. In Unterleuten ging fast immer ein leichter Wind. Er stand im Osten, also dort, wo sich Schallers Grundstück befand. Wo die Feuer brannten.

Gerhard füllte zwei Gläser zur Hälfte mit Ingwer-Sud. Er nahm Eiswürfel aus dem Gefrierschrank und schnitt eine Orange in Scheiben.

Mit Jule war er sich schnell einig gewesen. Auch ihr hatte der einstöckige Ziegelbau mit grünen Fensterläden und großem Dach sofort gefallen. Dazu die Randlage, fünftausend Quadratmeter Gartenland, eine alte Linde, die den Eingang überschattete. Der günstige Preis hatte sie überrascht. Berlin lag nur eine Stunde entfernt und war doch weiter weg als der Mond. Die Angst, das urbane Leben zu vermissen, geriet bald in Vergessenheit, ebenso wie Jules Pläne, dreimal pro Woche in die Stadt zu pendeln, um eine Promotion über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens zu schreiben. Stattdessen stürzte sich Jule in die Aufgabe, die bröckelnde Idylle in eine blühende Landschaft zu verwandeln. Während sich Gerhard in seine neue Rolle als Vogelschützer einfand und die Kollegen vom Naturschutz langsam überzeugte, dass ein habilitierter Soziologe vielleicht überqualifiziert, aber nicht komplett unfähig war, rodete Jule in abgeschnittenen Jeans und verschwitztem T-Shirt den Garten mit einer Sense.

Ihr gemeinsamer Plan, die Stadt zu verlassen, war relativ spontan entstanden und hatte sich doch schon vor Jahren abgezeichnet. Für Gerhard hatte der Umzug aufs Land eine Kündigungserklärung dargestellt. Er kündigte nicht nur seinen Job, sondern auch die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft, in der es nur noch darum ging, beim großen Ausverkauf der Werte die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Als früher Anhänger der Umweltbewegung hatte Gerhard politisches Engagement immer als natürlichen Zustand empfunden. In Gorleben hatte er zu den Aktivisten der ersten Stunde gehört. Er hatte volle 33 Tage in der neu ausgerufenen »Republik Freies Wendland« verbracht und sich von Helmut Schmidts Polizisten vom besetzten Gelände tragen lassen. Er fuhr zur Gründung der Grünen nach Karlsruhe, zog nach der Wende sofort nach Berlin und verpasste keinen Castor-Transport. Er hatte eine Feministin geheiratet, die keine Kinder wollte und sich bald wieder von ihm scheiden ließ. Er hatte über die »Topographie des Aufstands« habilitiert, auf den Ruf in irgendeine kleine Universitätsstadt verzichtet und lieber zwanzig Jahre lang als unterbezahlter Dozent am Berliner Institut für Sozialwissenschaften gearbeitet, wo er junge Leute auf ihrem Weg zum kritischen Bewusstsein unterstützen wollte.

An seinem 45. Geburtstag schien es Gerhard, als stünde er allein auf einem Schlachtfeld, das alle anderen verlassen hatten, um für den nächsten Stadtmarathon zu trainieren. Umweltschutz war eine Angelegenheit für Unternehmensberater geworden, und die restliche Politik wurde zwischen Sachzwangverwaltung und Spektakeljournalismus zerrieben. Mit zunehmender Fassungslosigkeit blickte er in die Gesichter seiner Studenten, in denen sich Angst und Erwartung zu seltsamer Leere paarten. Der Bologna-Prozess hatte aus der Universität ein Trainingscamp für Menschen gemacht, die sich bereits seit dem Kindergarten um das Design ihrer Lebensläufe sorgten. Gerhards Kollegen waren freundlich, sportlich und stets mit allem einverstanden. Sie hatten Familien, aßen mittags Salat und tranken auf Abendveranstaltungen höchstens ein Glas Bier, bevor sie um halb elf nach Hause gingen.

Wenn Gerhard bei solchen Gelegenheiten versuchte, ein politisches Gespräch in Gang zu bringen, wurde er misstrauisch beäugt wie ein verwirrter Greis. Am liebsten sprach er davon, dass das Drama der modernen Politik im fanatischen Streben der Menschen nach Veränderung liege. Die Menschen von heute konnten nichts lassen, wie es war, auch das Gute nicht. Wenn etwas funktionierte, machten sie es mit ihrer Änderungswut kaputt, bis es wieder Probleme gab, mit deren Lösung sie sich profilieren konnten. Sein berühmtes Mephisto-Zitat, pflegte Gerhard zu rufen, habe Goethe schlichtweg falsch herum formuliert. Das Teuflische des Menschen liege zweifellos in jener Kraft, die stets das Gute will und dann das Böse schafft.

Während seinen Zuhörern das Unbehagen in die Gesichter geschrieben stand, redete sich Gerhard in Rage. Ein Universitätssystem, auf das die ganze Welt neidisch gewesen war? Abgeschafft für ein paar Credits und Exzellenzinitiativen! Das große Projekt der europäischen Versöhnung? Eingetauscht gegen eine Zentralmacht mit Demokratiedefizit, die den kleinen Bauern das Saatgut verbot und den Finanzmärkten das Spekulieren erlaubte. Flughäfen mussten zusammengelegt, Bahnhöfe saniert, Städte untertunnelt und freie Flächen in Einkaufscenter verwandelt werden. Alles sollte immerzu wachsen und streben, auch wenn niemand mehr wusste, in welche Richtung es eigentlich ging. Das dritte Glas Rotwein in der Hand, verkündete Gerhard, man brauche heutzutage keine Helden des Umsturzes, sondern Helden der Bewahrung, die sinnlose Veränderungen bekämpften.

Spätestens an dieser Stelle begann die Gruppe, die ihm zuhörte, zu erodieren. Wenn Gerhard fragte, ob man nicht hier und jetzt eine Aktionsgruppe gegen die Studienreform gründen wolle, trug der letzte Zuhörer sein Mineralwasser in einen anderen Raum.

Außer Gerhard schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege. Stattdessen suchten alle ihr Heil im Training von Körper und Geist. Gerhard fühlte sich umgeben von Athleten. Bildungsathleten, Berufsathleten, Liebesathleten, Lebensathleten. Im Kampf hatte man sich stets als Teil einer Gruppe gefühlt; das Training machte einsam. Immerzu gingen die Menschen nach Hause, zur Familie, zum Sport, zu ihrem Facebook-Profil. Gerhard fühlte sich zurückgelassen, mit hängenden Armen zuschauend, wie alle anderen in verschiedene Richtungen auseinanderliefen.

An seine letzten Uni-Jahre erinnerte er sich mit Schaudern. Während er jetzt in seiner Küche stand und Orangen und Eiswürfel zu einer knirschenden Masse zerstampfte, dachte er daran, wie er damals an der eigenen Fakultät, in der eigenen Stadt, im eigenen Land zum Fremden geworden war. Die Anstrengungen anderer Menschen waren ihm erst übertrieben, dann lächerlich und schließlich gefährlich erschienen. Er hatte aufgehört, sich anzustrengen. Auf der Arbeit hatte er nicht mehr versucht, erfolgreich zu sein, in der Kneipe nicht, sich zu amüsieren, und im Theater nicht, das gezeigte Stück zu mögen. Kollegen und Freunde fanden ihn seltsam. Gerhard wusste, dass ihm nur die Wahl zwischen Verbitterung und Neuanfang blieb. Mit Verbitterung begann er sich auszukennen. Wie ein Neuanfang funktionieren sollte, war ihm schleierhaft. Dann kam Jule.