»Bitte, Herr Pilz«, sagte Arne, und der Junge dankte lässig mit zwei erhobenen Fingern.
»Wie bereits erwähnt, arbeitet die Vento Direct eng mit den Naturschutzbehörden zusammen. Aber auch andere Belange wie Anwohnerschutz, Landschaftsschutz und die Flugsicherheit der Luftwaffe werden berücksichtigt. Auf dieser Grundlage werden Windeignungsgebiete ausgewiesen, in denen es nicht zu einer Verletzung berechtigter Interessen kommen kann.« Er beugte sich über seinen Laptop und drückte eine Taste. »Sie sehen hier eine Flurkarte der Region.«
»Endlich wird’s interessant«, murmelte Gombrowski.
Wie so oft suchte Elena vergeblich nach einer passenden Antwort. Es war nicht so, dass sie die Dinge, mit denen er sich beschäftigte, nicht verstand. An heißen Tagen sorgte sie sich um das Getreide, und bei Regen fielen ihr die Kartoffeln ein. Aber ihr Kopf brachte keine Sätze hervor, die sie hätte sagen können. Der Kopf nickte, wenn Gombrowski gute Nachrichten brachte, und wippte bekümmert von einer Seite zur anderen, wenn es Probleme gab. Gern wäre Elena für ihren Mann eine kompetente Gesprächspartnerin gewesen. Insgeheim hatte sie immer verstanden, was er an Hilde fand. Hilde legte ihre kleinen Fäuste auf die Tischplatte und sagte: »Das können wir nicht dulden«, oder: »Da muss man abwarten«, oder: »Hauptsache, die Bilanzen stimmen«. Sie widersprach Gombrowski, sie pflichtete ihm bei, sie machte Vorschläge, und manchmal lachte sie ihn aus. Im Grunde hatte Elena nichts dagegen, dass Gombrowski seit Eriks Tod für Hildes Unterhalt aufkam. Sie wollte nur nicht wissen, warum er das tat. Sie wollte der Frau nicht begegnen und mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Insgeheim aber glaubte sie, dass Hildes Existenz und ihre eigene Bereitschaft, diese Existenz zu dulden, auf geheimnisvolle Weise das Fundament ihrer Ehe bildeten.
»Man erkennt nichts«, sagte Christina, die Kindergärtnerin.
»Heller machen«, rief das Mädchen im blauen Kleid, das vorhin schon gesprochen hatte.
»Größer«, kam es von Jakob oder Norbert, deren Stimmen zum Verwechseln ähnlich klangen. Die anderen LPG-Veteranen stimmten ein: »Hier gibt’s Leute, wo die Sehkraft nicht zum Besten steht!«
Gombrowski hatte sich vorgebeugt. Er stützte seine großen Hände auf die Knie und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Projektionswand.
»Die bunt schraffierten Bereiche sind Gebiete, die für Windkraft nicht infrage kommen. Wegen des Vogelschutzgebiets scheiden große Teile der Unterleutner Heide aus. Zu jedem Wohngrundstück ist ein Abstand von tausend Metern einzuhalten. Zudem benötigt ein Windpark nach dem Gesetz eine zusammenhängende Fläche von zehn Hektar oder mehr. Wie Sie sehen, bleibt da nicht viel übrig.«
»Wir sehen überhaupt nichts«, rief Gombrowski ungeduldig.
Sein Bass vibrierte in Elenas Zwerchfell. Vorne blickte Arne auf und hob nickend eine Hand, als hätte Gombrowski ein Grußwort an ihn gerichtet. Mit einem Fingerschnippen wies er Internet-Jochen an, sich um die Schärfeeinstellung des Beamers zu kümmern.
Eine Pause trat ein, in der Gombrowski und Arne einander musterten. Seit Gombrowski dafür gesorgt hatte, dass Arne Bürgermeister wurde, unterhielten sie eine komfortable Freundschaft. Arne begleitete Gombrowskis Projekte mit genehmigungsfreundlichem Wohlwollen; Gombrowski sorgte alle vier Jahre für Arnes Wiederwahl. Man traf sich regelmäßig zum Skat. Heute aber herrschte dicke Luft. Schon auf dem Weg zur Dorfversammlung hatte Gombrowski darüber geschimpft, dass Arne ihn nicht über das Thema des Abends informiert hatte. Die Spannung zwischen den beiden war so auffällig, dass die Umsitzenden zu tuscheln begannen. Elena hörte, wie Oma Rüdiger halblaut sagte: »Bei Gombrowskis hängt der Haussegen schief« – und wusste, dass nicht sie und Gombrowski, sondern Arne und Gombrowski damit gemeint waren.
Nachdem Jochen eine Weile an den Reglern herumgefummelt hatte, ohne dass sich die Lesbarkeit des Plans verbessert hätte, klopfte Arne ihm zum Dank auf den Arm und entließ ihn mit einem weiteren Fingerschnippen. Wieder hatte der Pilzjunge geduldig gewartet, bis die Dörfler mit ihrem Unsinn fertig waren, und nahm dann erneut das Mikrofon zur Hand.
»Ich werde Ihnen den Plan erklären. Das hier ist das große Waldgebiet zwischen Unterleuten und Plausitz. Hier die Unterleutner Heide, da das Beuteler Bruch. Dies sind die Dörfer Beutel, Groß Väter und Unterleuten.« Der Schatten des Pilzjungenzeigefingers fuhr über die Wand, machte halt, wanderte weiter. »Entlang des Waldrands sehen Sie einen Streifen, der nicht zu den Sperrgebieten zählt. Es handelt sich also um ein sogenanntes Eignungsgebiet. Aber der Wind kommt bei Ihnen meistens aus Südost. Deshalb sind die erwarteten Erträge an dieser Position nicht besonders hoch.«
Gombrowskis Stuhl folgte dem Gewicht des massigen Körpers, der sich immer weiter vorlehnte, und balancierte bereits auf den Vorderbeinen. Es sah aus, als bereitete er sich am Beckenrand auf einen Kopfsprung vor. Schließlich holte er Luft und stieß zwei Wörter aus:
»Schiefe Kappe.«
»Besser geeignet ist das Gebiet westlich der Unterleutner Landstraße.« Der Zeigefingerschatten verschwand, während sich der Pilzjunge die Brille richtete, und tauchte wieder auf, um ein Rechteck an die Wand zu malen. »Hier befindet sich ein Eignungsgebiet von etwa achtzehn Hektar. Der Flurabschnitt heißt Schiefe Kappe.«
»Da gucken wir direkt drauf«, rief eine aufgeregte weibliche Stimme; gleich darauf begann ein Kind zu schreien.
Die Frau des Vogelschützers verließ mit dem Baby den Saal. Ihr Mann hatte die Hände an die Schläfen gelegt und schüttelte ungläubig den Kopf. Als Gombrowskis Stuhl krachend auf die Hinterbeine zurückfiel, zuckte Elena zusammen wie von einem Schuss getroffen.
10 Seidel
Es hätte schlimmer laufen können. Am Nachmittag war Pilz auf einen Kaffee in der Waldstraße vorbeigekommen, um die letzten Absprachen für die Versammlung zu treffen. Dabei hatte er ein wenig aus seinem Berufsleben erzählt. Mit einem fliegenden Bierkrug müsse man immer rechnen, und letzte Woche sei er in Storchow fast verprügelt worden. Das berichtete Pilz ohne Wut oder Angst, er lachte nicht einmal. Er schaute nur immer weiter geradeaus durch seine runde Brille, als säße er in einem Berliner Konferenzraum bei einem langweiligen Montagsmeeting.
Der Junge sah aus wie ein Idiot, war aber Profi. Kaffeetrinken mit Provinzbürgermeistern und Wirtshausschlägereien gehörten zu seinem Job. Seit sechs Monaten waren er und sein Beamer im Auftrag der Vento Direct unterwegs, in über vierzig Dörfern war er aufgetreten. Inzwischen sei ihm, wie er selbst erklärte, nichts Menschliches mehr fremd.
Wieder einmal dachte Arne, dass sich die Zeiten geändert hatten. Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen. Keine Fehler zu begehen und dadurch unangreifbar zu werden. Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Lauf ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. Heraus kamen Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden. Was waren ein paar gebrochene Rippen gegen den Horror, die Erwartungen der Firma nicht zu erfüllen?
Armes Würstchen, dachte Arne, hielt aber den Mund.
Immerhin hatte er guten Gewissens versprechen können, dass es in Unterleuten nicht zu einer Schlägerei kommen würde. So waren seine Schäfchen nicht. Natürlich gab es immer wieder Reibereien, die der Bürgermeister zu schlichten hatte. Die Leute waren in der Lage, sich wegen eines angeblich vom Nachbarn angefahrenen Zaunpfahls in die Haare zu kriegen. Es konnte vorkommen, dass ein Siebzigjähriger einer Sechzigjährigen wegen einer kleinen Katze den Krückstock auf den Kopf schlug. Aber letztlich waren das Lappalien. Unter Leuten, die daran gewöhnt waren, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, ging es eben manchmal etwas rau zu. Natürlich gab es auch haufenweise Legenden, die dabei halfen, sich gegenseitig verdächtig zu finden. Wie Gombrowski mit seiner LPG-Umwandlung das halbe Dorf betrogen habe. Wie es bei dem schrecklichen Unwetter, in dem Erik sein Leben und Kron die Beweglichkeit eines Beins verloren hatte, nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Wer alles für die Stasi gearbeitet habe.