Derlei Blödsinn diente der Unterhaltung. Den meisten Menschen fiel es schwer zu akzeptieren, dass das Leben eine Mischung aus alltäglicher Langeweile und sinnlosen Tragödien war. Sie vermuteten hinter jedem Ereignis das planvolle Wirken einer übergeordneten Macht. Wenn nicht Gott, dann Gombrowski. Die einzige Person, die tatsächlich für die Staatssicherheit tätig gewesen war, hatte Arne seinerzeit besser gekannt, als ihm lieb gewesen wäre – und das hatte keine Klatschtante der Welt vorhergesehen. Der Rest war Humbug. In Wahrheit waren die Unterleutner viel zu anständig, um sich bei einer Versammlung auf einen Einzelnen zu stürzen. Das hatte er Pilz erklärt, und Pilz war es vollkommen gleichgültig gewesen.
In allen Ecken des Saals wurde gemurmelt und geflüstert wie in einer Schulklasse, die der Lehrer für ein paar Minuten verlassen hat. Arne musste nicht zuhören, um zu wissen, worüber die Leute sprachen. Auf der verwaschenen Projektion an der Wand ließ sich unmöglich erkennen, welche Flurstücke die Windeignungsgebiete genau umfassten. Auf die Schnelle konnte also niemand wissen, wem die Flächen gehörten, um die es ging. Die Unschärfe stellte keinen Zufall dar. Selbst das Drehen an den Einstellungen des Beamers war Teil einer sorgfältigen Inszenierung. Im Lauf der vergangenen Monate hatte der erstaunliche Herr Pilz eine Methode entwickelt, nach der er seine Arbeit tat.
Pilz war ein paar Schritte zur Seite getreten und lehnte an der Wand, während er darauf wartete, dass sich die Zuhörer müde diskutierten. Bei Steffens Jungs war es schon so weit, sie starrten mit leerem Blick vor sich hin und hatten den Anschluss an das Geschehen verloren. Die LPG-Veteranen debattierten. Gombrowski trug eine versteinerte Miene zur Schau. Der Vogelschützer sah aus, als hätte er gerade seine ganze Familie bei einem Terroranschlag verloren. Der würde Ärger machen, so viel stand fest. Auf die anderen wartete nach viel Peitsche das Zuckerbrot. Auch das gehörte zu Pilz’ Strategie, die er Arne beim Kaffeetrinken offenbart hatte. Es galt, die Ablehnung bis zum kritischen Punkt zu steigern, dann die Wut verrauchen zu lassen und anschließend Argumente nachzulegen, die das ganze Projekt alternativlos erscheinen ließen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, es handele sich um eine komplexe Materie mit einer gewissen Ausweglosigkeit. Das verwirrte die Leute. Pilz brauchte keine Zustimmung, er brauchte nur Resignation. Arne kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Junge sprach wie die Bundeskanzlerin.
Zu regenerativen Energien vertrat Arne keine persönliche Meinung, aber eins wusste er mit Sicherheit: Die Gemeindekassen waren leer. Den Kindergarten bedrohte die Schließung, Groß Väter und Beutel brauchten neue Bürgersteige, und die Feuerwehr war seit Langem von Spenden abhängig. In der letzten Gemeinderatssitzung hatten sie darüber diskutiert, die Straßenbeleuchtung aus Kostengründen nach Mitternacht abzuschalten. Damit noch mehr Katzen überfahren würden. Eines Tages wäre dann auch mal ein Betrunkener dabei. Pilz hatte eine einfache Kalkulation im Gepäck. Ein Windpark brachte pro Megawatt bis zu 13000 Euro Gewerbesteuer im Jahr. In Unterleuten waren zehn Kraftwerke mit insgesamt fünfzehn Megawatt denkbar. Das Ergebnis ließ sich im Kopf ausrechnen. Sicherheitshalber hatte Arne einen Taschenrechner benutzt. Die Einkünfte würden die bescheidenen Mittel des Dorfs fast verdoppeln.
Eigentlich hatte sich Arne nie zur Politik berufen gefühlt. Die glücklichste Zeit seines Lebens verdankte er vielmehr der Fähigkeit, den Mund zu halten. Als junger Mann hatte er sich in der DDR zum Veterinäringenieur ausbilden lassen und nach dem Studium eine Anstellung in der LPG »Gute Hoffnung« bekommen. Deshalb war er im Jahr 1979 nach Unterleuten gezogen, wo man ihm ein schönes Haus in der Waldstraße zuwies, das seit der Fluchtwelle im sozialistischen Frühling leer stand. Er kümmerte sich um den Großviehbestand der LPG, setzte das Haus instand und heiratete Barbara, die den LPG-Kindergarten leitete. Obwohl sich herausstellte, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, war Arne zufrieden. Er mochte Unterleuten, und er mochte seinen Job. Weil er sich wie die meisten Menschen im Dorf nicht für Politik interessierte, gab es wenig Berührungspunkte mit dem System. Man schimpfte auf die Bonzen aus Berlin und hielt im richtigen Moment den Mund.
Zu einem nicht unwesentlichen Teil bestand Arnes Arbeit darin, Kälber zur Welt zu bringen und alte oder kranke Tiere zu töten. Fast täglich überquerten Lebewesen unter seinen Händen die Schwelle zwischen Leben und Tod in die eine oder andere Richtung. Mit der Zeit entwickelte Arne ein entspanntes Verhältnis zur eigenen Existenz. Dass er sterblich war, erschien ihm nicht als Dilemma. Für Arne war das Älterwerden eine Straße, auf der er freiwillig voranschritt.
Bis zur Wende. Monatelang glaubte Arne, selbst diese Entwicklung gehe ihn nichts an. Schließlich interessierten sich Geburt und Tod nicht für Kommunismus oder Kapitalismus, sondern bestanden darauf, in jedem beliebigen System stattzufinden. Irgendwie würde es schon weitergehen. Dann aber stellte sich heraus, dass die neue Bundesrepublik Arnes Abschluss als Veterinäringenieur nicht anerkannte. Gombrowski versuchte alles, um ihn zu behalten, musste aber am Ende einsehen, dass er einen Mann ohne Berufsabschluss nicht als Tierarzt beschäftigen konnte. Plötzlich hatte Arne kein Geld mehr, dafür viel freie Zeit. Zum ersten Mal spürte er das Fehlen von Kindern wie ein gleichförmiges Brummen im Kopf.
Das Brummen wurde zu einem schrillen Ton, als Barbara von ihrem Besuch in einem Westberliner Krankenhaus nach Hause kam. Weil sie seit einiger Zeit an Migräne litt, war sie auf Arnes Drängen in die Charité gefahren, hatte die Maschinen bestaunt und im Scherz gefragt, ob man Patienten mit diesen Geräten in die Zukunft verschicke, um dort Diagnosen erstellen zu lassen. Von ihrer persönlichen Zeitreise kehrte sie mit einem Todesurteil zurück. Bösartig. Inoperabel. Prognose unklar.
Arne nahm ihr übel, wie schnell sie starb. Als hätte sie es eilig, von ihm wegzukommen. Er hatte genug Tiere in den Tod begleitet, um zu wissen, wie es aussah, wenn ein Wesen kämpfte. Barbara kämpfte nicht. Es war, als hätte ihr die untergehende DDR ein Loch in den Kopf gebohrt, durch das sich ihre Seele geräuschlos davonstahl. Arnes Liebe, Arnes Fürsorge, Arnes verzweifelte Versuche, sie zurückzuholen, nahm sie einfach mit ins Nichts.
»Lass mich doch gehen«, sagte Barbara. Dann ging sie.
Als er vier Wochen später die Sachen seiner verstorbenen Frau sortierte, fand er zwischen den Seiten eines Buchs eine Notiz, welche die Worte »Bericht« und »Magdalena« sowie Zeit und Ort für ein Treffen enthielt. Einen Abend lang saß er vor dem ausgeschalteten Fernseher. Am nächsten Tag forderte er seine Akte an.
»Magdalena« war fleißig gewesen. Sie hatte nicht nur die betrieblichen Abläufe in der »Guten Hoffnung« dokumentiert. Nicht nur die Kinder in der KiTa gefragt, was bei ihnen zu Hause geredet wurde. »Magdalena« hatte auch ihren Ehemann bespitzelt. Arne saß im Lesesaal der Gauck-Behörde, während um ihn herum die Welt versank. Vor ihm lagen Protokolle von Gesprächen, die er mit Barbara geführt hatte. Auflistungen seiner Vorlieben und Abneigungen. Ein Stundenplan seines Tagesablaufs. Die Buchstaben verschwammen auf dem Papier, als sich seine Augen mit Tränen füllten. Eine Mitarbeiterin der Behörde näherte sich mit den sanften Schritten einer Krankenschwester und fragte, ob sie etwas für ihn tun könne. Stumm schüttelte er den Kopf. Er wollte nach Hause. Bis ihm einfiel, dass er kein Zuhause mehr besaß.