Weil ihm nichts anderes übrig blieb, fuhr er trotzdem zurück nach Unterleuten, legte sich auf die Couch und stand nicht mehr auf. Er hatte geglaubt, Barbaras Tod habe eine Leere hinterlassen. Jetzt lernte er, was echte Leere war. Es spielte keine Rolle, dass er seine Frau nicht mehr zur Rede stellen konnte. Er wusste auch so, was sie gesagt hätte. Dass man sie unter Druck gesetzt hatte. Dass es darum ging, ihr gemeinsames Leben zu bewahren. Dass sie ihn beschützt hatte, indem sie nur Positives oder Belangloses über ihn berichtete. Das alles hätte sie Arne unter Tränen erzählt, und zu allem Überfluss wäre es nicht einmal gelogen gewesen. Sie hätte alles versucht, damit Arne ihr verzieh, und am Ende hätte er sich noch als Unmensch fühlen müssen, weil er ihr unmöglich verzeihen konnte. So gesehen war es gut, dass sie tot war. Was dem Krebstod nicht gelungen war, hatte der Verrat mit Leichtigkeit geschafft – er hatte Arne die Frau genommen.
Mit einem Mal wurde Arne klar, dass sein munteres Voranschreiten niemals etwas mit Freiwilligkeit zu tun gehabt hatte. Jetzt wollte er umkehren. Er wollte zurück ins Jahr 1979, genauer gesagt, zurück zu dem Tag, an dem er seinen ersten Spaziergang durchs Dorf unternahm. Plötzlich hatte eine Frauenstimme aus vollem Hals »Kathrin! Kathrin!« geschrien. Gleichzeitig war ein kleines Mädchen die Dorfstraße hinuntergerannt, einer Katze nachjagend, im Jagdfieber taub gegen alle Rufe, mit fliegenden blonden Locken und flatterndem Kleid. Die Frau, die gerufen hatte, hielt ein Baby auf dem Arm und hatte einen großen Bollerwagen bei sich, in dem zehn weitere Kinder saßen. Arne lief der rennenden Kleinen ein Stück entgegen, parierte ihr Ausweichmanöver und fing sie ein. Das Mädchen wand sich, strampelte und schrie, während er es zu seiner Betreuerin zurückbrachte. Einen Augenblick standen sie sich gegenüber, und die kleine Kathrin in Arnes Armen fühlte sich plötzlich an wie ein gemeinsames Kind.
Arne wollte ins Jahr 1979 zurück, um in diesem Augenblick nicht zu lächeln. Er wollte Barbara nicht die Hand geben und nicht seinen Namen nennen. Er wollte sie eine Woche später nicht zum Tanzen in den Märkischen Landmann einladen. Er wollte sie nicht heiraten. Stattdessen wollte er eine andere Frau kennenlernen, mit der er Kinder kriegen konnte und die ihn nicht erst verraten und dann verrecken würde.
Die schreckliche Einsicht bestand darin, dass es gleichgültig war, was er wollte. Für Arne würde es weitergehen, ohne Kinder, ohne Frau, ohne Job, mit anderen Worten, ohne den geringsten Sinn.
Er blieb auf der Couch. Gelegentlich schlief er, gelegentlich stand er auf, ging auf die Toilette, holte sich ein Glas Wasser oder durchstöberte die Schränke nach Essbarem. Am zehnten Tag erkannte er sich nicht mehr im Spiegel. Er hatte abgenommen. Hose und Hemd hatten sich in stinkende Fetzen verwandelt, das Haar klebte ihm am Schädel, ein ungepflegter Bart bedeckte sein Gesicht. Er staunte, wie schnell sich ein Mensch in ein Gespenst verwandeln konnte. Sein Erstaunen nahm er mit auf die Couch.
Bis Gombrowski dreimal klopfte und dann die Tür eintrat. Er zerrte Arne vom Sofa und schüttelte ihn wie eine Puppe. Dabei schrie er: »Du hast sie wohl nicht mehr alle.«
Mehr hatte er zu Arnes Unglück nicht zu sagen. Wenn Arne ehrlich war, traf der Satz seine Lage nicht einmal schlecht.
Gombrowski schleifte ihn zum neuen Auto, um ihn ins neue Geschäftsführerbüro der neuen Ökologica GmbH zu verfrachten. Dort wartete Hilde, die schwarz trug wegen Eriks Tod und einen Schirm dabeihatte, damit ihr der blaue Himmel nicht auf den Kopf fiel. Gombrowski und Hilde eröffneten Arne, dass er sich als Bürgermeisterkandidat zur Wahl stellen und gewählt werden würde. Arne widersprach nicht. Das Gespräch dauerte keine zehn Minuten. Im Anschluss daran ging Arne zu Fuß nach Hause und duschte.
Seitdem versuchte er, der beste Bürgermeister der Welt zu sein. Der Dienst am Dorf hatte ihm das Leben gerettet, also widmete er sein Leben dem Dorf. Was nicht immer einfach war. In Unterleuten gab es keine Kanalisation, die Straßen besaßen keine Bürgersteige, und die Dorfbeleuchtung stammte noch aus der DDR. Sämtliche Versuche, etwas an den Zuständen zu ändern, waren am Widerstand der Unterleutner gescheitert. Streng genommen hatte Arne während seiner gesamten Amtszeit nur ein einziges Projekt realisiert, nämlich den Bau einer Trinkwasserversorgungsanlage, welche Unterleuten die Unabhängigkeit vom Plausitzer Zweckverband sicherte. Auf einer üppigen Wiese zwischen Unterleuten und Groß Väter stand ein Horizontalfilterbrunnen modernster Bauart. Arne fuhr gern dorthin, um nach dem Rechten zu sehen, besonders, wenn er traurig war.
Herr Pilz beendete seine Kunstpause. Er stieß sich von der Wand ab, ging betont langsam zum Tisch, nahm das Mikrofon in die Hand, ordnete das Kabel, überprüfte den Beamer, sah auf die Uhr. Er zog sein Vorbereitungstheater in die Länge, bis es im Saal stecknadelstill war. Wieder dachte Arne, wie merkwürdig die Jugend von heute veranlagt war. Pilz konnte nicht älter als 30 sein und besaß die Abgeklärtheit eines alten Haudegens.
»Verehrte Damen und Herren, liebe Zuhörer.« Sein Tonfall hatte sich geändert. Er klang, als spräche er an diesem Abend zum ersten Mal mit dem Publikum. »Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich Ihnen gleich vorweg ein paar wichtige Informationen liefern. Nach Bundesgesetz ist die Errichtung von Windkraftanlagen im Außenbereich privilegiert zulässig. Trotz des hohen umweltpolitischen Nutzens der Windenergie bedarf es allerdings einer räumlichen Steuerung, um Konflikte mit anderen Nutzungen und Belangen, insbesondere dem Schutz von Natur und Landschaft, zu minimieren. Die überörtliche Steuerung von Windenergieanlagen erfolgt durch die Ausweisung von Eignungsgebieten in den Regionalplänen. Unterleuten gehört zum Bereich Prignitz-Oberhavel. Zuständig sind also die regionalen Planungsgemeinschaften, welche wiederum von den Landkreisen und kreisfreien Städten gebildet werden.«
Pilz lächelte, und in diesem Lächeln lag das ganze Wissen darüber, dass niemand im Raum ein einziges Wort verstand.
»Soll heißen, nicht zuständig sind die Gemeinden. Auch nicht Ihr netter Bürgermeister, Herr Arne Seidel.«
Wieder machte Pilz eine Pause, als müsste er überlegen, wie er den Sachverhalt noch nachvollziehbarer zusammenfassen könnte.
»Das Wesentliche wird nicht in Unterleuten entschieden. Nicht einmal in Plausitz. Sondern in Neuruppin.«
Der Saal schwieg. Die Menschen waren daran gewöhnt zu hören, dass sie nichts zu entscheiden hatten. Seltsamerweise löste diese Ansage keine Wut, sondern schlechtes Gewissen aus. Arne kannte das Phänomen und hatte darüber nachgedacht. Vielleicht fanden sie es peinlich, dass sie überhaupt für eine Sekunde auf die Idee verfallen waren, eine Stimme zu besitzen. Oder sie schämten sich, weil sie nichts gegen die Entmachtung unternahmen. Am wahrscheinlichsten aber war, dass sich das schlechte Gewissen auf ihre heimliche Erleichterung bezog. In Wahrheit war jeder froh, wenn er nichts entscheiden und folglich auch nichts verstehen musste. Auf diese Weise ersparte man sich das anstrengende Nachdenken über komplizierte Sachverhalte und behielt trotzdem das Recht, sich nach Herzenslust zu beschweren. Arne spürte, wie sich die Leute bereit machten, den Rest des Vortrags zu verdösen, um nachher vor der Tür lautstark auf Die-da-oben zu schimpfen.
»Im Rahmen der Regionalpläne«, sagte Pilz, »bleibt den Gemeinden die Möglichkeit, die ausgewiesenen Eignungsgebiete zu konkretisieren.«
Übersetzt bedeutete das: Bauen würde die Vento Direct auf jeden Fall. Die Frage war nur, wo.
»Ein paar Worte zu den Abläufen. Die Gemeinde stellt einen Bebauungsplan auf, wenn sie den von uns projektierten Windpark ermöglichen will. Sie alle hier sind befugt, an diesem Planungsverfahren mitzuwirken. Lassen Sie mich jetzt erklären, warum regenerative Energien in Ihrem eigenen Interesse sind.«