Nun würde die frohe Botschaft folgen. Arne hörte auf, in seinen Unterlagen zu blättern, und lehnte sich zurück, um seinen Schäfchen ins Gesicht zu sehen. Ganz links saß Kathrin, die Tochter von Kron. Jenes Mädchen, dass er eingefangen und zu den anderen Kindern zurückgebracht hatte, an dem Tag, als er Barbara zum ersten Mal sah. Inzwischen eine schöne Frau. Auf ihrem Schoß das zappelnde Krönchen. Als Kathrin merkte, dass Arne sie ansah, senkte sie den Kopf. Es gehörte zu ihren Eigenheiten, sich ständig für irgendetwas zu schämen.
Vor dreißig Jahren waren Barbara und Arne für Kathrin wie Ersatzeltern gewesen. Das kleine Mädchen wuchs ohne Mutter auf, und Kron tat sich als Vater oft schwer. An den Nachmittagen hatte Arne die Kleine gern mit in die LPG genommen. Sie liebte die Kühe und ging ihm bei der Arbeit zur Hand, so gut sie konnte. Bis heute hatte er nicht aufgehört, Kathrin auf besondere Weise zu mögen. Ihr war das unangenehm, besonders, weil sie Zaun an Zaun wohnten und sich täglich sahen, seit Kathrin mit ihrem Mann Wolfi nach Unterleuten zurückgekehrt war. Manchmal machte Arne sich einen Spaß daraus, sie in Verlegenheit zu bringen. Wenn sie abends mit Wolfi auf ein Bier in den Märkischen Landmann kam, trat er von hinten an sie heran und hob sie an den Hüften hoch, wie er es getan hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Sie kreischte noch genau wie damals, in einer Mischung aus Angst und Vergnügen, nach der Arne regelrecht süchtig war. Nach dem ersten Schreck wurde sie wütend und schickte ihn weg, mit einer kleinen Zornesfalte auf der Stirn.
Seltsamerweise hatte sich seine Zuneigung nicht auf Kathrins Tochter Krönchen übertragen, auch wenn die Kleine genauso aussah wie die junge Kathrin von damals. Aber sie besaß ein völlig anderes Naturell. Bei offenem Fenster im Arbeitszimmer hörte Arne regelmäßig, wie Krönchen im Nachbargarten spielte. Mit Spielzeugautos inszenierte sie nichts als tödliche Unfälle und mit ihren Puppen Krieg. War ein Elternteil in der Nähe, drangen unentwegt schrille »Guck mal! Guck mal!«-Rufe zu Arne herüber, abgelöst von »Geh weg!« und »Du nicht!«, wenn sich Wolfi oder Kathrin näherten. Krönchen war falsch, liebte Intrigen und spielte die Eltern gegeneinander aus. Arne war überzeugt, dass mit ihrem Charakter etwas nicht stimmte. Da sie derartige Defekte nicht von Kathrin haben konnte und Wolfi ein harmloser Trottel war, musste sich wohl das Genmaterial von Krönchens Großvater durchgesetzt haben.
Arne wandte sich zur anderen Seite und rückte sich so auf dem Stuhl zurecht, dass er den alten Kron ins Visier nehmen konnte. Er saß halb verborgen hinter den beiden Neuen, Frederik und Linda, die mit einem Unbekannten gekommen waren, vermutlich ein älterer Verwandter auf Besuch. Arne wollte sehen, wie Kron die nächsten Informationen aufnehmen würde.
»Ihrer Gemeinde würde der Windpark jährlich knapp 200000 Euro Gewerbesteuer bringen«, sagte Pilz.
Auch wenn Kron entgegen den Gerüchten gewiss niemals mit der Stasi zusammengearbeitet hatte, besaß er ein paar Eigenschaften, die ihn unbequem machten. Er war ein Querulant, ein Störenfried. Außerdem ein guter Redner. Häufig erschien er als einziger Zuhörer bei den Gemeinderatssitzungen. Kron kritisierte Vergabeverfahren und verlangte Nachweise für verwendete Mittel. Sosehr sich Arne wünschte, mehr Menschen für seine Arbeit und die Belange der Gemeinde begeistern zu können – insgeheim gestand er sich ein, dass es besser voranging, wenn die Leute wegblieben. Bürgerbeteiligung war ein Name für die Einmischung von Leuten, die keine Ahnung hatten, jede Menge Ärger verursachten und am Ende darüber meckerten, dass sich alles in die Länge zog.
»Und der Eigentümer, auf dessen Grundstück die Kraftwerke gebaut werden, bekommt pro Anlage einen Pachtzins von 15000 Euro im Jahr. Bei zehn Windrädern ergibt das ein hübsches Grundeinkommen.«
Der Saal reagierte mit Raunen.
»Außerdem fühlt sich die Vento Direct traditionell für ihre Standorte verantwortlich. Wir engagieren uns für lokale Belange. Spenden für die Feuerwehr gehören ebenso dazu wie die Unterstützung von Sportvereinen und Kindergärten. Und wenn mal ein Dorffest stattfindet, dann weiß die Vento Direct, dass man dazu das eine oder andere 50-Liter-Fass braucht.«
Der Jubel blieb aus, aber es protestierte auch niemand. Manche tuschelten, die meisten starrten vor sich hin. Gombrowski flüsterte aufgeregt mit Betty, die neben ihm saß. Auch ohne etwas zu verstehen, kannte Arne den Inhalt des Gesprächs. Betty erhielt gerade Anweisung, die Flurpläne einzusehen. Aus dem Kopf wusste Gombrowski genauso wenig wie die anderen, wem die Grundstücke auf der Schiefen Kappe gehörten.
Das Erstaunliche war, dass Kron ganz ruhig auf seinem Platz saß. Der Mund stand halb offen, und seinem Blick war anzusehen, dass der Verstand angestrengt nach einem Ansatzpunkt suchte. Im Stillen gratulierte Arne sich selbst. Die Geheimhaltungsstrategie hatte sich als goldrichtig erwiesen. Niemand hatte Zeit gehabt, sich auf das Thema Windkraft vorzubereiten. Kron war wie ein Messinstrument, das auf der Oberfläche der Öffentlichkeit schwamm und ihre Temperatur registrierte. Wenn Kron den Mund hielt, wusste auch sonst niemand, auf welcher Seite er stand.
11 Kron-Hübschke
»Reingehen und denen auf die Fresse hauen. Alle erschlagen wie räudige Hunde.«
Immer musste er übertreiben. Immer gleich aufs Maul, in die Fresse, vors Schienbein. Dabei wusste er doch selbst nicht, wen er überhaupt mit »alle« meinte. Gombrowski, klar, der war immer gemeint. Den sollte der Schlag treffen, der Teufel holen, die Pest erwischen. Aber sonst? Den kleinen Vento-Jungen, der sich sein erstes Aktienpaket verdiente? Oder Arne, den einzigen Menschen weit und breit, der es gut mit dem Dorf meinte und nicht immer nur an sich selbst dachte?
Wenn sich Kathrin an ihre Kindheit erinnerte, sah sie ihren Vater stets wütend oder mürrisch. Sie hatten niemals zusammen gelacht. Bis heute hielt Kron seine schlechte Laune für etwas Besonderes. Am liebsten pflegte er sie in aller Öffentlichkeit. Seiner Meinung nach plagte ihn kein alltäglicher Frust, sondern ein höherer Weltschmerz, der auf speziellen Kenntnissen über die Schlechtigkeit der Menschen beruhte. Kron glaubte, die Leute als Einziger so zu sehen, wie sie wirklich waren. Daraus folgte ein Leiden am Sein, das er seiner Umwelt präsentierte wie eine Trophäe. Da die Menschen sein Elend verursachten, sollten sie gefälligst auch hineinblicken wie in einen Spiegel.
Mit anderen Worten, Krons schlechte Laune hatte pädagogische Qualität. Das fand Kathrin so peinlich, dass sie sich unausweichlich zu einem sonnigen Gemüt verpflichtet fühlte. Um keinen Preis wollte sie in den Verdacht geraten, die demonstrative Miesepetrigkeit ihres Vaters geerbt zu haben.
»Stundenlanges Gelaber, und am Ende machen sie doch, was sie wollen. Das nennt sich dann Demokratie.«
Kron lehnte an der Mauer vor dem Märkischen Landmann, schwang seine Krücke und spielte Partisanenführer. Der einsame Kämpfer für die Gerechtigkeit. Nach Ende der Versammlung hatte Kathrin ihren Mann und Krönchen nach Hause geschickt und war vor dem Märkischen Landmann stehen geblieben, um den Vater zu beaufsichtigen.
»Dagegen hilft nur draufhauen.«
Schon als kleines Mädchen hatte Kathrin gelitten, weil Kron immer zu viel, zu laut und in belehrendem Tonfall redete. Mit den Jahren fing sie an, ihn besser zu verstehen. Er fühlte sich so allein, dass schon die bloße Existenz anderer Menschen einen Angriff darstellte. Im Grunde war seine schlechte Laune eine Art Selbstverteidigung. Niemand mochte Kron. Bis zur Wende hatte er als Hundertprozentiger gegolten, den das halbe Dorf für einen Stasi-Spitzel hielt. Seit dem Fall der Mauer nannte man ihn einen Vorgestrigen, der seine Irrtümer nicht einsehen wollte.
Das Verständnis für seine traurige Lage machte die Sache leider nicht besser. Die Scham wurde nicht kleiner, dafür wuchs das Mitleid – und damit der Schmerz. Es tat weh zu sehen, wie Kron im Kampf gegen Windmühlen die Faust reckte, den Mund aufriss und die Augen verdrehte. Wie er affektiert mit seiner Krücke fuchtelte, ohne die er niemals das Haus verließ. Eine tragbare Anklage. Manchmal wollte Kathrin ihrem Vater die Krücke entreißen und ihn anschreien. Dass er aufhören sollte, sich für etwas Besseres zu halten, und endlich anfangen, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen.