Aber Kathrin schrie nicht. So sehr sie sich für ihn schämte, so sehr war sie ihm auch zu Dank verpflichtet. Als die Mutter kurz nach Kathrins zweitem Geburtstag die Familie verlassen hatte, war Kron von einem Tag auf den anderen zum ersten alleinerziehenden Vater der Region mutiert. Er hatte sein Leben umgekrempelt, um Kathrin die Mutter zu ersetzen. Neben seiner Arbeit in der LPG erledigte er den Haushalt, kochte, putzte, wusch die Wäsche. Die Tage verbrachte Kathrin bei Barbara im Kindergarten, nachmittags holte Kron sie ab, schob sie im Kinderwagen nach Hause, wickelte sie, badete sie, schnitt Hühnerbrust und Kartoffeln in winzige Stücke. Wenn Kathrin nachts ihre Hustenanfälle bekam, stand er stundenlang mit ihr vor dem offenen Kühlschrank, weil die kalte Luft die Bronchien beruhigte. Wenn ihr schlecht war, saß er an ihrem Bett, fütterte sie mit Salzkeksen und quirlte Kohlensäure aus der Vita-Cola. Nie würde sie seinen verletzten Blick vergessen, wenn sie wieder gesund war und als Erstes zu Arne und Barbara lief.
LPG, Hausarbeit und Tochter ließen Kron keine Zeit für eine neue Frau, und so wurde er immer älter und blieb allein. Dann kam die Wende, die alles durcheinanderwarf. Als Kron nach dem Waldunfall aus dem Krankenhaus kam, Gesicht und Oberkörper blau und verschwollen, das rechte Bein komplett in Gips, wurde Kathrin zur Mutter und er zum Kind. Das fünfzehnjährige Mädchen hielt den Vater im Arm, als er auf Eriks Beerdigung zusammenbrach. Sie sorgte dafür, dass er morgens das Bett verließ und abends eine warme Mahlzeit zu sich nahm. Als sie erfuhr, dass Gombrowski ihm ein großes Stück Wald überschreiben wollte und Kron sich weigerte, die Schenkung anzunehmen, schimpfte sie mit ihm, bis er sich endlich bereit erklärte, seinen Namen ins Grundbuch eintragen zu lassen. Seit Unfall und Umwandlung der LPG hatte Kron keine Arbeit mehr; die Invalidenrente reichte hinten und vorne nicht. Auf die Erträge des Walds waren sie bitter angewiesen.
Nach der Wiedervereinigung arrangierte sich Kathrin leicht mit dem neuen System. Sie wollte Abitur machen und Medizin studieren, sparte auf einen Computer und betrachtete die Zukunft als etwas, auf das sie ein Recht besaß. Kron hingegen bockte. Er wollte keine D-Mark, weigerte sich, den neuen Supermarkt in Plausitz zu betreten, und schimpfte über das Fernsehprogramm. Kathrin wurde erwachsen, während ihr Vater auf bestem Weg schien, sich in ein Kleinkind zurückzuverwandeln. Nach dem Studium kehrte Kathrin mit Wolfi nach Unterleuten zurück und akzeptierte eine Stelle am Krankenhaus in Neuruppin, obwohl sie im Westen viel mehr verdient hätte. Zweimal pro Woche schaute sie im Jagdhaus vorbei, überprüfte, ob sich etwas im Kühlschrank befand, und ermahnte Kron, sich den Bart zu stutzen, mehr Gemüse zu essen und vor allem um Himmels willen keinen Streit anzufangen.
»Dem ganzen verlogenen Pack die Ohren lang ziehen. Dann wissen sie, wo sie sich ihre Windräder hinstecken können!«
Rings um Kron hatte sich die übliche Gefolgschaft aus LPG-Veteranen versammelt. Wolfgang, Heinz und Norbert mit ihren Frauen, dazu Jakob, Ulrich und Björn. Gemeinsam bildeten sie einen kettenrauchenden Rentnerclub, zusammengeschweißt durch den festen Glauben, vom Leben betrogen worden zu sein. Wenn Kron irgendwo die Krücke schwang, waren seine Jünger nicht weit.
Aber auch ein paar ungewohnte Zuhörer waren stehen geblieben, um Krons Tiraden zu lauschen. Der Vogelschützer Fließ und seine Frau, die an ihrem Baby klebte, als stünde ein Bombenangriff bevor. Dazu die beiden Neuen, die seit ein paar Monaten in der Villa Kunterbunt lebten und ein bisschen aussahen wie Teenager, die von zu Hause weggelaufen waren. Etwas abseits stand der Fremde mit den teuren Schuhen, vermutlich ein Onkel der beiden, und tippte auf seinem Blackberry herum. Den Vorbesitzern hatte die heruntergekommene Villa kein Glück gebracht. Einer nach dem anderen war auf Kathrins Tisch in der Pathologie gelandet. Hirntumor, Schlaganfall, Selbstmord. Fehlte nur noch ein Autounfall, um das Quartett der beliebtesten Todesursachen zu komplettieren. Nach Meinung des Dorfs lastete ein Fluch auf der Villa Kunterbunt. Obwohl Kathrin nicht abergläubisch war, wünschte sie den Neuen Glück. Die beiden wirkten nett und normal, wie sie an der Mauer vor dem Landmann lehnten und Kron zuhörten. Solche Leute brauchte das Dorf. Kathrin fand, dass man jedem Normalen, der nach Unterleuten zog, ein Begrüßungsgeld zahlen sollte.
Vereinzelt kamen noch Gäste aus dem Landmann, die ein letztes Bier getrunken oder im Flur ein paar Worte gewechselt hatten. Sie musterten die Gruppe um Kron mit kurzem Blick und machten, dass sie weiterkamen. Arne, Gombrowski und der Windmühlen-Pilz waren noch nicht aufgetaucht. Vermutlich warteten sie drinnen, bis Kron seine Belagerung aufgegeben hatte und nach Hause gegangen war. Natürlich wusste der Bürgermeister, dass er bei den Dörflern mit Konfrontation nicht weiterkam. Zwar trugen die meisten das Herz auf dem rechten Fleck, aber stur waren sie alle, und Kron stellte im Reich der Sturköpfe den Kaiser dar. Kathrin mochte Arne für seine ruhige Art, für seine Selbstlosigkeit und dafür, dass er zuhören konnte. Als sie klein war, hatte sie in manchen Phasen mehr Zeit bei ihm und Barbara verbracht als zu Hause. Er hatte sie mit in die Ställe genommen, und manchmal durfte sie zusehen, wie er ein Kalb zur Welt brachte. Den lieben Gott hatte sie sich immer wie Arne vorgestellt, im Stroh kniend, von Eimern mit heißem Wasser und verschiedenen Zangen umgeben.
Irgendwann hatte Kathrin angefangen, sich in ihrem Zimmer einzuschließen, statt zu Arne zu laufen. Nicht dass sie aufgehört hätte, ihn zu mögen. Aber mit fünfzehn kam ihr die Freundschaft zu einem älteren Mann plötzlich unangebracht vor. Während des Studiums dachte sie nur noch selten an ihn, und es war allein dem Zufall geschuldet, dass sie direkt neben ihm einzog, als sie sich mit Wolfi für ein Leben in Unterleuten entschied.
Trotz ihrer Sympathie für Arne hielt Kathrin die Begegnungen am Gartenzaun möglichst kurz. Sie ertrug die Art nicht, wie er sie ansah. Sie ertrug seine Einsamkeit nicht und auch nicht den Gedanken daran, was Barbara ihm angetan hatte. In der Ausweglosigkeit der Kindheit war Arne ihr bester Freund gewesen. Nun hätte sie ihm in der Ausweglosigkeit des Alters beistehen müssen. Aber Kathrin hatte eine schwierige Tochter, einen Job in der Klinik, mit dem sie die Familie ernährte, weil Wolfi als Schriftsteller nichts verdiente, und einen Vater, der aller Welt Prügel androhte und zu Hause vergaß, den Herd auszuschalten. In ihrem Leben war einfach kein Platz für Arne und seinen sehnsüchtigen Blick. Dafür viel Platz für jede Menge schlechtes Gewissen.
»Wir lassen uns nicht mehr verarschen! Damit ist Schluss! Ein für alle Mal!«
In die Gruppe vor dem Landmann kam Bewegung. Das Mädchen aus der Villa Kunterbunt war ein paar Schritte vorgetreten und stand jetzt direkt hinter Kron. Sie schaute zur Seite, als beobachtete sie etwas auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, und ordnete mit erhobenen Armen ihren Pferdeschwanz.
»Mit Ruhe erreicht man mehr«, sagte sie. Dabei schaute sie nicht Kron an, sondern schien mit jemandem zu sprechen, der auf der anderen Straßenseite stand.
Die LPG-Veteranen starrten sie an wie eine Geistererscheinung. Normalerweise wagte es niemand, Kron in die Parade zu fahren. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf die junge Frau, die sich unbefangen in der Mitte der Gruppe hielt und den Blick in unbestimmte Ferne richtete. Betont langsam drehte Kron sich um.
»Wer bist du denn?«
Mit dieser Frage hatte er zu lange gezögert, was sein traditionelles Duzen weniger unverschämt als hilflos klingen ließ.
»Ich bin Linda«, sagte die junge Frau.