»Jetzt reicht’s aber!«, rief Frederik.
»Wir wollen doch alle dasselbe«, sagte Fließ, ohne dass klar wurde, mit wem er sprach. »Wir müssen die Kräfte bündeln.«
Ein zweites Mal knallte Meiler mit dem Rücken gegen die Mauer.
»Ihr werdet kein einziges Windrad bauen, verstanden?«, brüllte Kron. »Du setzt dich jetzt in deinen Mercedes und verschwindest. Wenn ich dich hier noch mal sehe, mach ich dich kalt!«
In diesem Augenblick kam Bewegung in die Szene. Linda war auf Kron zugetreten und hatte ihm blitzschnell etwas in die Hand gedrückt. In der Überraschung ließ Kron den Gegenstand gleich wieder fallen. Es klirrte auf dem Asphalt. Alle sahen zu Boden. Dort lag ein Messer mit blanker Klinge und glänzte in den Strahlen der Abendsonne. Linda musste es aus Jakobs Werkzeuggürtel gezogen haben.
»Na los«, sagte sie zu Kron. »Schneid Herrn Meiler die Kehle durch.«
Kron schaute auf das Messer, auf Meiler, in die Runde. Selten hatte Kathrin ihn so verwirrt gesehen.
»Was soll das denn?«, fragte er schließlich lahm.
»Ich mag Leute nicht, die groß reden und klein handeln.«
Im Hintergrund ordnete Meiler sein Hemd, nahm den Blackberry aus der Tasche, als wollte er jemanden anrufen, und steckte ihn wieder weg.
Kron straffte den Rücken und ging drohend auf Linda zu, in der sicheren Erwartung, dass sie zurückweichen würde. Aber sie blieb stehen.
»Magst du nicht, was?« Krons Stimme klang unsicher.
»Mag ich nicht«, sagte Linda in schönster Gelassenheit.
Das Schauspiel war zu Ende, das Kräftemessen entschieden. Kron versuchte, das Messer beiseitezukicken, verfehlte es, strauchelte und musste sein Gleichgewicht mithilfe der Krücke suchen. Die LPG-Veteranen glotzten wie Kühe, die man im Wald ausgesetzt hatte.
In Kathrins Kehle stieg ein Lachen auf. Sie konnte es nicht unterdrücken. Es platzte aus ihr heraus, mitten in die Stille hinein. Sie lachte über den eigenen Vater, während ihr nach Heulen zumute war. Kron sah sie an, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.
Nach ein paar Sekunden betroffenen Schweigens legte Kron den Kopf in den Nacken und musterte den Himmel, wie um zu prüfen, ob die Nacht schon hereinbrach.
»Ab nach Hause«, sagte er dann.
Sofort löste die Gruppe sich auf. Jakob hob sein Messer vom Boden auf, die Veteranen wandten sich ab und gingen davon, jeder in seine Richtung. Meiler war noch immer mit dem Ordnen seiner Kleidung beschäftigt.
»Sie kriegen eine Anzeige, die sich gewaschen hat«, sagte Meiler zu Kron, der nicht mehr zuhörte.
»Kommen Sie noch mit zu uns?«, fragte Linda.
Überrascht nahm Kathrin zur Kenntnis, dass Linda den Fremden siezte.
»Das könnte Ihnen so passen.« Meilers Stimme zitterte. Offensichtlich stand er kurz vor einem Wutanfall. »Ich hole mein Auto und bin weg.«
»Ziemliche Pleite«, sagte Frederik, während Meiler davonging.
»Da bin ich gar nicht so sicher«, erwiderte Linda.
Sie sah zufrieden aus. Sie nahm Frederik an der Hand, grüßte in die Runde, und schon schlenderten die beiden den Beutelweg hinunter, wo sie auf der Höhe von Gombrowskis Haus in den Stichweg zur Villa Kunterbunt einbiegen würden.
»Wir telefonieren«, sagte Fließ zu niemand Bestimmtem. »Wir bleiben in Kontakt.«
Kurz darauf waren Kathrin und Kron allein. Die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein. Am Ende der Kette aus trüben Lichtern schloss sich der Wald zu einer schwarzen Wand. Irgendwo dort in der Dunkelheit stand das Kron’sche Jagdhaus, auf einer Lichtung, über die bei Nacht äsendes Dammwild zog. Als Kathrin klein war, hatte ihr Vater sie manchmal auf den Arm genommen und reglos mit ihr am Fenster gestanden, wenn die Hirsche dicht ans Haus herangekommen waren.
Jetzt standen sie dicht beieinander und sprachen kein Wort. Gern hätte Kathrin etwas gesagt, eine Bemerkung gemacht, die ihrem Lachen von eben das Verächtliche nahm. Aber ihr fiel nichts ein.
Sie liebte ihren Vater und wusste, dass er sie ebenfalls liebte. Trotzdem konnten sie nicht mehr tun, als schweigend nebeneinanderzustehen. Kathrin war traurig. Unterleuten ist ein Gefängnis, dachte sie, obwohl das mit der Situation nicht viel zu tun hatte.
»Nacht, Schatz«, sagte Kron schließlich.
Flüchtig spürte Kathrin seine Hand auf ihrer Schulter. Dann lauschte sie dem vertrauten Walzertakt seiner Schritte, während er unter den Laternen davonging. Der Klang des Krückstocks wurde leiser, verklang ins Schweigen des Dorfes, in die Schwärze des Waldes hinein. Im Gebüsch auf der anderen Straßenseite begann eine Nachtigall zu schlagen. Der durchdringende Ton schraubte sich in die Höhe, fiel plötzlich ab, ging in ein Rattern über, auf das ein komplizierter Triller folgte, der wiederum von eine Reihe hohler Pfiffe abgelöst wurde.
Kathrin fragte sich, ob Dichter, die von Nachtigallen schwärmten, jemals eine gehört hatten.
Teil II
Das Tier von nebenan
Unterleuten bedeutet Freiheit.
Gerhard Fließ
12 Gombrowski
Es hörte nicht auf. Es war wie eine Krankheit, die den einmal befallenen Körper niemals wieder verließ. Sie konnte jahrelang im Verborgenen schlummern und dann plötzlich wieder hervorbrechen. Man griff zu den bewährten Mitteln der Hausapotheke. Danach zu den wissenschaftlichen Methoden der Schulmedizin. Man gab Freunden nach, die einen zur Homöopathie bekehren wollten. Man versuchte, die Symptome zu ignorieren, in der Hoffnung, sie würden an mangelnder Aufmerksamkeit eingehen. Weil alles nicht half, ging man schließlich zum Gegenschlag über, ignorierte die Fachleute und unterzog sich einer selbsterfundenen Rosskur. Ohne Rücksicht auf Verluste. Daraufhin schien sich das Leiden tatsächlich zurückzuziehen, Erleichterung trat ein, trügerische Normalität. Aber die Keime, die Körper und Seele befallen hatten, wühlten weiter, fraßen heimlich an der Lebenskraft, verwandelten einen gutmütigen Mann in einen reizbaren Choleriker, der sich gegenüber Frau und Kind vergaß und anschließend in stummen Selbsthass verfiel, von dem sich die Krankheit weiter nährte. Bis sie eines Tages erneut zuschlug, aus heiterem Himmel und mit zehnfacher Kraft.
Manchmal nachts, wenn Gombrowski den Fehler begangen hatte, allein in der Küche sitzen zu bleiben und zu trinken, verfiel er auf die Idee, der Name dieser Krankheit sei »Schuld«. In nüchternem Zustand aber wusste er, dass sein Leiden »Morbus Kron« hieß. Gombrowski war kronisch krank.
Als er den Range Rover auf das Betriebsgelände der Ökologica lenkte, blieb einer der Melker verwundert stehen und hob zögernd die Hand zum Gruß. Es war zu früh für den Chef. Die Traktoren parkten noch in den Unterständen, die Pelletieranlagen schwiegen. Abgesehen vom gelegentlichen Brüllen der Kühe war es still. Gombrowski parkte den Wagen vor dem Eingang zum Büro, blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen und rieb sich das Gesicht.
Nach der Dorfversammlung am Vorabend hatte er an der Bar des Landmann gesessen, Bier und Bromfelder bestellt und darauf gewartet, dass Kron draußen auf der Straße mit seinem Affentheater fertig wurde. Durch die geöffneten Fenster war Stimmengewirr hereingedrungen, immer wieder überlagert von Krons herausforderndem Geschrei. Wie so häufig hatte der Alte irgendeinen Mist veranstaltet, und Gombrowski hatte wenig Lust verspürt, mitten hineinzugeraten. Als es draußen endlich still wurde, hatte Sabine ihm gerade die dritte Runde hingestellt, und danach sprach nichts mehr gegen eine vierte und eine fünfte.
In der Nacht hatte er schlecht geschlafen, weil Krons Stimme immer weiter in seinem Kopf krakeelte. Als der Morgen endlich weit genug fortgeschritten war, hatte er das Bett mit Erleichterung verlassen.
Den Schlüssel zum Büro musste er eine Weile suchen. Normalerweise kam Betty morgens vor ihm und verließ die Ökologica am Abend, wenn er schon lange nach Hause gegangen war. Ohne Betty wirkte der lang gestreckte Raum mit der niedrigen Decke so mürrisch, wie Gombrowski sich fühlte. Es roch nach alten Gummistiefeln. Missmutig betrachtete er die beiden Kaffeemaschinen auf dem Aktenschrank. In der blauen Kanne kochte Betty mehrmals am Tag einen ölig schwarzen Kaffee, den jeder vorgesetzt bekam, der das Büro der Ökologica betrat, egal ob Traktorfahrer, Tierarzt oder Bürgermeister. Die rote hingegen enthielt Gombrowskis Spezialgetränk, zwei Löffel Pulver auf einen ganzen Liter. Die durchsichtige Brühe stellte das Ergebnis von zähen Verhandlungen mit dem Hausarzt dar, der ihm das Kaffeetrinken ganz verbieten wollte. Jeden Abend nach der Arbeit schüttete Betty den Inhalt der roten Kanne in die Spüle, ohne dass jemand davon getrunken hätte. Die Existenz der roten Kanne sorgte dafür, dass der Inhalt der blauen, an der sich Gombrowski heimlich bediente, noch viel besser schmeckte.