Er hatte Lust auf Kaffee, entschied sich aber nach kurzer Überlegung gegen den Versuch, selbst welchen aufzusetzen. Betty hätte ihn ausgelacht. Unschlüssig stand er vor dem großen Doppelschreibtisch in der Mitte des Raums und haderte mit der Erkenntnis, dass er ohne ihre Hilfe auch nicht in der Lage war, die Pläne zu finden. Während seine Seite des Tischs bis auf ein paar Unterschriftenmappen relativ aufgeräumt wirkte, verschwand Bettys Arbeitsplatz unter einer Lawine von Papier. Aktenordner, Arbeitspläne, Antragsdossiers und dicke Handbücher zum Recht der Europäischen Union. Völlig unmöglich, in dem undurchschaubaren System eine bestimmte Flurkarte zu finden. Versuchsweise öffnete Gombrowski einen der Aktenschränke, die das Zimmer säumten, aber auch die Beschriftung der Ordner sagte ihm nichts. Betty kümmerte sich um das Ablagesystem. Wenn er wissen wollte, wem die Windkraft-Eignungsgebiete gehörten, musste er notgedrungen warten, bis sie im Büro erschien.
Schwer ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen, dessen Lehne unter seinem Gewicht weit nach hinten federte. Auch ohne einen Blick in die Pläne war er ziemlich sicher, dass das zweite Eignungsgebiet am Unterleutner Waldrand zu Krons Besitz gehörte. Nur unter diesen Vorzeichen ergab der erneute Ausbruch der Kron’schen Krankheit einen Sinn. Gombrowski schloss die Augen und sah Krons Gesicht vor sich, wie er es als Dreizehnjähriger erblickt hatte, verzerrt von teuflischer Freude, beleuchtet vom flackernden Schein eines Feuers, das sein Zuhause zerstörte. Gombrowski glaubte zu spüren, wie das Virus einer fünfzigjährigen Feindschaft erneut in seinen Adern zu wimmeln begann.
Damals hatte das Feuer im Kornspeicher auf mehrere Nebengebäude übergegriffen und die halbe Ernte vernichtet. Die ganze Nacht waren Gombrowskis Eltern und ihre Leute im Einsatz, um die Tiere zu evakuieren und zu verhindern, dass die Flammen das Dorf erfassten. Danach hatte der Vater kapituliert. Am 2. April 1960 brachte er 170 Hektar Land sowie sämtliche Maschinen in eine LPG ein, die »Gute Hoffnung« genannt wurde und das Gegenteil verhieß.
In den Monaten nach der Enteignung verwandelte sich der tatkräftige, polternde Mann in einen Schatten seiner selbst. Noch weniger als das erzwungene Nichtstun ertrug er zu sehen, was dem Betrieb widerfuhr, dem er und seine Vorfahren ihr Leben gewidmet hatten. Jetzt mussten die Gombrowskis aus dem schönen Gutshaus ausziehen, es wurde umgehend abgerissen. Ebenso die Ziegelscheunen, soweit sie nicht schon dem Brand zum Opfer gefallen waren. Wochenlang brachten Lastwagen Zement, um eine gewaltige Betonplatte zu gießen, auf der gesichtslose Stallungen und Lagerhallen errichtet wurden.
Schon bald zeigten sich auf den Feldern die ersten Folgen der Misswirtschaft. Als Gerüchte aufkamen, dass die Planwirtschaft auf eine industrialisierte Trennung von Vieh- und Pflanzenproduktion hinauslief, verließ der alte Landwirt das Bett nicht mehr.
Gombrowski war sechzehn, als die Ärzte seinen Vater aufgaben. In seiner Verzweiflung versprach er dem sterbenden Mann, dass er Agrarwissenschaften studieren, in die LPG eintreten und sich eine Führungsposition erarbeiten werde. Eines Tages würde es ihm gelingen, die Ländereien in den Besitz der Gombrowskis zurückzubringen, zum Wohl der Familie und des ganzen Dorfs. Der Alte winkte ab, schloss die Augen und schickte ihn aus dem Raum.
Nach seinem Studienabschluss im Jahr 1971 fing Gombrowski bei der LPG an. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kron bereits zehn Dienstjahre hinter sich. Sie hatten einander eine ganze Weile nicht gesehen. Vor seiner künftigen Arbeit hatte Gombrowski keine Angst. Er fürchtete sich nur davor, Kron wiederzubegegnen. Wie es sein würde, ihn täglich um sich zu haben, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Was auch immer er sich ausgemalt hatte – die Banalität der Wirklichkeit verspottete die Phantasie. Im Eingangsflur des Verwaltungsgebäudes liefen sie einander in die Arme. Kron reichte ihm die Hand und stellte sich mit vollem Namen vor, als wären sie einander noch nie begegnet. Danach verschwand er im Büro des Vorsitzenden, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Seltsamerweise regte sich auch in Gombrowski nicht das geringste Gefühl. Der Mann, dem er gerade im Flur begegnet war, hatte nichts mit dem wilden Gesicht zu tun, das ihn seit seiner Kindheit verfolgte. Er fühlte sich erleichtert. Gleichgültigkeit war die beste Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit.
Kron stammte aus einer besitzlosen Familie, glaubte an den Kommunismus und sah seinen Lebenszweck darin, so hart wie möglich für die Ernährung der sozialistischen Gemeinschaft zu arbeiten, während Gombrowski ein schlechter Genosse, dafür aber studierter Landwirt war. Fachkenntnisse brauchte die »Gute Hoffnung« mindestens ebenso dringend wie politische Überzeugung. Anders als sein Vater besaß Gombrowski die Fähigkeit, im richtigen Augenblick den Mund zu halten, was ihm die Führungskader in Berlin als Linientreue anrechneten. Er verstand es, sich mit den Funktionären gut zu stellen, überholte den dienstälteren Kron im Nu auf der Karriereleiter und löste Anfang der Achtziger den amtierenden Vorsitzenden ab. Binnen kürzester Zeit holte er die rückständige LPG in die Gewinnzone, was ihm Ehrbezeigungen eintrug, die er mit gemischten Gefühlen entgegennahm. Keinen Tag seines Lebens vergaß Gombrowski, was er dem Vater versprochen hatte.
Es schien ihm nur folgerichtig, den fleißigen und zuverlässigen Kron zu Weiterbildungen anzuhalten, ihn zum Vorarbeiter und schließlich zum Brigadeführer in der Pflanzenproduktion zu befördern, auch wenn ihm Krons politische Didaktik auf die Nerven ging. Kron war kein Mensch, in dessen Gegenwart man ein offenes Wort zur Lage im Land geäußert hätte. Gombrowski respektierte ihn für seinen Fleiß, hätte ihn aber niemals in die Geheimnisse der Geschäftsführung eingeweiht. Es war nicht Kron, sondern Hauptbuchhalterin Hilde Kessler, die mit ökonomischer Musikalität dazu beitrug, die »Gute Hoffnung« trotz sinnloser Vorgaben als vorbildlichen Betrieb zu führen.
Die Wende kam, als kaum noch jemand daran glaubte. Montagsdemonstrationen, Massenflucht, Mauerfall – die Welt verwandelte sich in ein Kartenhaus, das ringsum in sich zusammenfiel. Aus Gombrowskis Sicht besaß das Durcheinander ein Zentrum, welches »Gute Hoffnung« hieß. Die LPG hatte in den letzten Jahren nicht nur 800 Hektar Land bewirtschaftet, sondern bildete auch in anderer Hinsicht das Herz Unterleutens. Sie betrieb Kindergarten, Erholungsheim und ärztlichen Versorgungsdienst. Sie hatte sich um Instandhaltung der Straßen, Leerung der Sammelgruben und Beleuchtung des öffentlichen Raums gekümmert. Jedes Jahr wurden Weihnachtsfeier und Sommerfest ausgerichtet, und gelegentlich gab es im Aufenthaltsraum schlecht besuchte Kulturabende mit zähen Romanen, unbedenklicher Lyrik oder »Paul und Paula«. Seit Gombrowski den Vorsitz innehatte, florierte die LPG nicht nur in ökonomischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Der Kampf um die Bewahrung des Familienerbes trat in eine neue Phase. In schlaflosen Nächten sah Gombrowski immer wieder, wie sein Vater abwinkte, die Augen schloss und ihn aus dem Zimmer schickte.