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Die Gespräche liefen gut. Jeder der Eingeladenen sagte Gombrowski seine Stimme in der Vollversammlung zu, die im November stattfinden sollte. Gleichzeitig aber gingen in schneller Folge vier Austrittserklärungen ein, alle von Landeinbringern. Die Erklärungen waren wortgleich verfasst und die Fristen korrekt berechnet, woraus Rack folgerte, dass auch Kron und Erik Gespräche führten und sich nach juristischem Beistand umgesehen hatten.

Gombrowski verhandelte mit den Austrittswilligen. Machte Angebote für den Fall, dass die Kündigungen zurückgezogen würden. Warb für Verständnis, dass allzu hohe Abfindungszahlungen die »Gute Hoffnung« ruinieren konnten.

Was er auch tat, er verlor weiter an Boden. Weitere Austrittserklärungen landeten auf seinem Tisch. Als ihm zu Ohren kam, dass Kron ein Gegenkonzept entwickelte, nämlich die Gründung einer eingetragenen Genossenschaft unter dem Namen »Agrar Unterleuten e.G.«, wurde es Zeit für ein Gipfeltreffen.

Sie wählten den Märkischen Landmann, weil Kron auf neutralem Gebiet bestand. Kron kam mit Erik, Gombrowski mit Rack. Hilde blieb zu Hause, weil sie, seit sich Erik auf Krons Seite geschlagen hatte, bei jedem Wort explodierte, das ihr Mann von sich gab.

Gombrowski redete vernünftig, Rack ebenso. Aber schon nach fünf Minuten begann Kron zu schreien. Er warf Gombrowski Betrug vor. Die Satzung der Ökologica hatte er bis ins Detail studiert, in jedem Wort fand er Hinweise auf Gombrowskis Niedertracht. Die Prokura, dazu siebzig Prozent der Geschäftsanteile. Dabei gehöre doch alles, formell wie moralisch, den Genossen, das Land, die Maschinen, die vollen Getreidespeicher. Er, Kron, werde niemals zulassen, dass sich ein habgieriger Kapitalist alles unter den Nagel reiße.

Der Fanatismus malte rote Flecken auf seine Wangen. Jeder wusste, dass Kron den Zusammenbruch der DDR nicht verkraftet hatte. Seit Wochen wurde Hilde nicht müde zu wiederholen, dass es nicht lohne, sich über einen Verrückten aufzuregen. Trotzdem spürte Gombrowski, der Krons Theater mit starrer Miene über sich ergehen ließ, wie wachsende Wut ihm den Magen umgrub. Er hatte den Mann, der einst Feuer an sein Zuhause gelegt hatte, zwanzig Jahre lang gefördert und unterstützt. Jetzt stieg ein Wort in ihm auf und wollte an die Oberfläche, und schließlich sagte er es laut, mitten in Krons Tiraden hinein:

»Verräter.«

Kron griff einen Aschenbecher vom Tisch und zielte auf Gombrowskis Kopf. Er war zu aufgebracht, um gut zu werfen; der Aschenbecher zerschellte hinter Gombrowski an der Wand. Noch bevor die Scherben ruhig am Boden lagen, hatte Kron die Tür erreicht und war aus dem Landmann gerannt. Auch Erik, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, stand auf und ging Richtung Tür. Bevor er die Kneipe verließ, sagte er:

»Du denkst, dir gehört hier alles, Gombrowski, aber dieses Mal bist du zu weit gegangen. Wir verklagen dich. Wir machen dich fertig. Davon wirst du dich nie mehr erholen.«

Dann war auch er verschwunden. Es war der Abend des 31. Oktober 1991 und ungewöhnlich warm, sowohl für die späte Stunde wie auch für die Jahreszeit.

Gombrowski und Rack blieben im Landmann sitzen und berieten das weitere Vorgehen. Die »Gute Hoffnung« würde Kron ein letztes Angebot machen. Wenn er seinen Widerstand aufgab und die LPG ohne weitere Agitation verließ, würde er als Abfindung ein dreißig Hektar großes Waldstück erhalten, auf das der Betrieb nicht lebensnotwendig angewiesen war. Sie setzten ihm eine Frist von fünf Tagen, Rack schrieb alles auf und überbrachte das Dokument noch in derselben Nacht.

Hilde war überzeugt, dass sich ein Fanatiker wie Kron nicht kaufen lasse. Gombrowski sah die Lage optimistischer. Hinter Fanatismus, meinte er, verberge sich Neid, und dreißig Hektar würden Kron zu etwas machen, das er vermutlich von Kindesbeinen an hatte sein wollen: ein kleiner Großgrundbesitzer.

Bis heute wussten sie nicht, wer recht behalten hätte. Weil niemand sagen konnte, wie Krons Entscheidung ohne die Ereignisse vom 3. November ausgefallen wäre. Jedenfalls bildete der Knall, mit dem der tonnenschwere Ast vom Baum brach, den Startschuss zur Gründung der Ökologica GmbH. Noch aus dem Krankenhaus ließ Kron seine Kapitulation überbringen. Zudem schien Eriks Tod auch die anderen Unterleutner zur Vernunft zu bringen. Die meisten Austrittswilligen nahmen ihre Kündigungen zurück, bis auf Wolfgang, Heinz, Norbert, Ulrich, Jakob und Björn, die zu Krons engsten Anhängern zählten. Doch auch diese machten keinen ernsthaften Ärger mehr, erklärten sich auf Gombrowskis Verlangen mit einer symbolischen Abfindung einverstanden und traten geräuschlos aus der LPG aus. Niemand sprach mehr von Betrug, Klage oder alternativen Gesellschaftsformen. Am zweiten Jahrestag des Mauerfalls bestätigte die Vollversammlung ohne Gegenstimme die Umwandlung der »Guten Hoffnung« in die Ökologica GmbH und verabschiedete die geplante Satzung. Bei einer Enthaltung, weil Kron noch immer im Krankenhaus lag.

Nicht Kron persönlich, sondern seine jugendliche Tochter Kathrin forderte die dreißig Hektar Wald aus Racks Angebot, und Gombrowski sorgte dafür, dass Kron das Land so schnell wie möglich bekam. Das war Ehrensache. Danach stürzte er sich in die Arbeit. Endlich konnte er den Grund und Boden seiner Väter so bewirtschaften, wie es Erfahrung und Fachwissen befahlen. Die Umstrukturierung der Ökologica GmbH machte weniger Schwierigkeiten als erwartet. Die Agrarfunktionäre, mit denen er schon zu DDR-Zeiten erfolgreich zusammengearbeitet hatte, saßen jetzt im Landwirtschaftsministerium oder im Vorstand des Bauernverbands. Die Treuhand und ihre Nachfolgerin BVVG verkauften oder verpachteten das ehemals volkseigene Land bevorzugt an ihn, weil seine Bilanzen vielversprechender waren als jene der wenigen neuen Kleinbauern in der Region. Frühzeitig stellte Gombrowski auf Bio-Anbau um; auf jeden Hektar gab es Subventionen. Binnen weniger Jahre wurde die Ökologica ein in jeder Hinsicht sauberer und gesunder Betrieb. Die Probleme, die Gombrowski heute das Leben schwer machten, hatten nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit der Zukunft. Altlasten gab es keine. Außer Kron.

Mit einem Knall, der Gombrowski auffahren ließ, schlug die Tür gegen die Wand, als Betty eintrat. Es gehörte zu ihren Eigenarten, für jeden Handgriff etwas zu viel Kraft aufzuwenden. Sie hatte weder die Zierlichkeit noch die geringe Körpergröße ihrer Mutter Hilde geerbt. Böse Zungen behaupteten, dass sie mit kompaktem Oberkörper, stämmigen Beinen und einem großflächigen Gesicht, das sich darauf vorbereitete, in einigen Jahren das Kinn auf dem Brustbein abzulegen, viel eher Gombrowski ähnlich sehe. Ihr voluminöser Körper steckte in einem grauen Overall mit dunkelblauem Besatz an Knien und Ellenbogen, wie ihn auch die Feldarbeiter trugen. Das stumpfblonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Ich dachte, das wäre mein Büro.«

»So früh am Morgen?«

»Ich suche …«

»Hier.«

Betty zog ein paar gefaltete Blätter aus der Cargotasche ihres Overalls und glättete sie vor Gombrowski auf dem Tisch. Es waren Kopien der Arbeitsfolien, die der Vento-Knabe während der Dorfversammlung gezeigt hatte. Gestrichelte Linien markierten die geplanten Eignungsgebiete.

»Wo hast du die her?«

»Die brauchen wir.«

Gombrowski lächelte, er liebte ihre Art zu antworten. Mit siebzehn Jahren war Betty als Auszubildende in die Ökologica gekommen, hatte drei Jahre später den Abschluss als Landwirtin erworben und war seitdem mit dem Betrieb verheiratet. Wenn Gombrowski der Kopf der Ökologica war und Hilde die Seele, dann war Betty Arme, Beine und Verdauungsapparat. Seine eigene Tochter Püppi hätte sich eher den Arm abgehackt, als einen Finger in der Landwirtschaft krumm zu machen. Mit zigtausend Euro hatte er ihr jene Bildung gekauft, die sie brauchte, um ihn und seine Arbeit lächerlich zu finden. Betty hingegen fungierte seit zehn Jahren als seine rechte Hand. Fehlende Beweglichkeit im Denken glich sie durch minutiöse Kenntnis der Betriebsabläufe aus. Dass nicht Püppi, sondern Betty eines Tages die Ökologica übernehmen würde, war ein offenes Geheimnis. Auch wenn sie mit Nachnamen Kessler hieß und allen Gerüchten zum Trotz nicht seine außereheliche Tochter war. Gombrowski war der letzte Vertreter der Gombrowski-Dynastie in Unterleuten. Sein großes Lebensprojekt, die Unterleutner Landwirtschaft in den Familienbesitz zurückzuholen, erschien angesichts dieser Tatsache so gehaltvoll wie eine hohle Nuss.