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Nachdenklich beobachtete Gombrowski, wie Betty in den Unterlagen auf ihrer Schreibtischseite zu kramen begann. Während sie Aktenordner öffnete und schloss, murmelte sie leise vor sich hin. Es gab Tage, an denen ihn die Frage, wofür er sich in den letzten Jahrzehnten abgerackert hatte, regelrecht lähmte. Dann brauchte er Betty, nicht nur als Mitarbeiterin, sondern als Antwort. Wenn er sie anschaute, den gebeugten Nacken, den heiligen Ernst auf ihrer Stirn, während sie sich mit den Belangen der Ökologica beschäftigte, wusste er, dass es sich irgendwie doch gelohnt hatte. Er mühte sich ab, um Hildes Tochter eines Tages eine gesunde Wirtschaft hinterlassen zu können. In letzter Zeit hatte dieses Vorhaben angesichts der ökonomischen Lage immer unrealistischer gewirkt. Aber seit gestern Abend wusste er, wie es funktionieren konnte: mit zehn Windrädern, die Jahr für Jahr eine anständige Rendite abwarfen.

»Hier.«

Betty hatte die richtige Flurkarte gefunden und entfaltete das quadratmetergroße Dokument auf dem Tisch. Es kostete sie nur Sekunden, die schlampig gezeichneten Eignungsgebiete mit dem amtlichen Plan zu vergleichen. Jeweils einen Zeigefinger legte sie auf die betreffenden Stellen. Den einen auf die Schiefe Kappe, unweit der Landstraße, die nach Plausitz führte. Den anderen an den Rand des Unterleutner Walds. Gombrowski beugte sich vor.

»Und wem gehören die Gebiete?«

»Willst du einen Kaffee?«, fragte Betty.

13 Fließ

Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten. Gerhard war ein Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. Größenwahnsinnige Arbeitgeber, unfreundliche Verkäuferinnen, Dauerbaustellen auf Hauptverkehrsstraßen, stundenlange Parkplatzsuche, Kinderwagen in überfüllten U-Bahnen. Überall Werbung, die den Verstand beleidigte. Nachbarn, die am Samstagmorgen Regale an die Wände schraubten. Kinder, die in der Wohnung oben Fangen spielten. Leute, die nicht wussten, dass es zum Musikhören Kopfhörer gab. Zehn verschiedene Paketdienste, die alle zwanzig Minuten klingelten, um eine Sendung für die Nachbarn abzugeben. Zugeschissene Bürgersteige. Überwachungskameras und flimmernde Monitore an jeder Ecke. Unternehmensberater am Arbeitsplatz. Berufsverkehr, Rollschuh-Demos, neurotische Hunde, überquellende Mülltonnen und Menschen, die den lieben langen Tag auf ihre Smartphones starrten, um jene ungesunde Mischung aus Panik und Langeweile nicht zu spüren, die für den aktuellen Zeitgeist typisch war.

Die Welt wurde in Städten erfunden, verwaltet, regiert und dekoriert. Also sollten die Irren mit ihrem Irrsinn auch in den Städten bleiben. Kein Schwein interessierte sich für Unterleuten, wenn es darum ging, Breitbandkabel zu verlegen, verarmte Rentner zu unterstützen oder eine Arztpraxis zu eröffnen. Dann sollten sie gefälligst auch ihre Windräder im Berliner Tiergarten errichten.

Unterleuten bedeutete Freiheit, Symbol der Freiheit war ein unverstellter Horizont. Unverstellte Horizonte gehörten zu Gerhards Job.

Mit Grauen dachte er daran, dass moderne Windkraftwerke die Höhe des Kölner Doms erreichten. Als wären Schaller und seine Müllverbrennungsanlage nicht Strafe genug. Der alte Kron mit seiner Krücke mochte nicht ganz bei Trost sein, aber seine Worte vor dem Märkischen Landmann hatten ins Schwarze getroffen.

Wenn auf der Anhöhe im Westen ein Windpark stünde, wäre Gerhards Haus, für dessen Sanierung er sich bis an sein Lebensende verschuldet hatte, keinen Pfifferling mehr wert. Das würde bedeuten, dass sie nicht wegziehen konnten, selbst wenn sie es wollten. Und Jule wäre bestimmt niemals in der Lage, sich mit dem Anblick der drehenden Rotoren zu arrangieren.

Mal abgesehen von ihrer persönlichen Betroffenheit, machte schon die Existenz der Kampfläufer das Vorhaben zur Farce. Man investierte doch nicht Millionen in ein EU-finanziertes Naturschutzgebiet, um es dann durch das Aufstellen von Windrädern in sein Gegenteil zu verkehren. Das Vogelschutzreservat Unterleuten lag auf dem Gebiet von drei benachbarten Gemeinden und war mit knapp 200 Hektar eines der größten in Europa. Gemeinsam mit vier Kollegen bewachte Gerhard auf diesem Territorium eine Population von 16 Brutpaaren. Gemäß Anlage 1 zur Bundesartenschutzverordnung gehörten die Kampfläufer zu den streng geschützten Vögeln. Sie waren 30 Zentimeter hoch, graufleckige Vögel von Größe und Statur einer kleinen Mülltüte, allerdings mit erstaunlicher Flugfähigkeit. Im Balzkleid präsentierten die Männchen einen weißen oder orangefarbenen Kragen. Traditionell besaßen die Vögel sogenannte Arenen, in denen sie ihre Werbungsläufe aufführten, während die Weibchen am Rand standen und sich ein Männchen für die Paarung aussuchten.

Den Winter verbrachten die Vögel in Westafrika. Von Anfang März bis Ende August wurde das Reservat abgeriegelt, damit die Kampfläufer bei Brut und Aufzucht ihrer Jungtiere nicht durch Spaziergänger gestört wurden. Aus ganz Europa reisten Ornithologen zur Beobachtung an. Sie kletterten auf einen der speziell errichteten Holztürme und richteten ihre Objektive auf die weiten Grasflächen der Unterleutner Heide. Meist stellten die Kampfläufer die Geduld ihrer Besucher auf eine harte Probe. Zeigte sich eine Gruppe in einiger Entfernung, die Männchen womöglich im Prachtkleid, mit gerecktem Kopf und gespreiztem Kragen ihre komplizierten Schleifen trippelnd, ratterten die Auslöser der Kameras, als liefe die Besetzung eines Hollywoodfilms über den roten Teppich.

Allein die Vorstellung, am Rand dieser Idylle einen Windpark zu errichten, löste bei Gerhard einen Lachreiz aus, der in Grauen überging, wenn er sich klarmachte, dass es sich nicht um einen Witz handelte.

Nach dem Abend im Märkischen Landmann hatte er noch lange mit Jule am Küchentisch gesessen. Er hatte sie zu einem Glas Wein genötigt und den Rest der Flasche allein getrunken. Sie redeten, wie sie schon lange nicht mehr miteinander geredet hatten. Über den tollwütigen Fortschrittsdrang der kapitalistischen Gesellschaft. Über die Idiotie der Politik. Über die Egozentrik und Aggressivität der modernen Welt, für die auch die brennenden Autoreifen des Tiers von nebenan ein gutes Beispiel abgaben. Selbstverständlich war Gerhard als Umweltschützer der ersten Stunde ein leidenschaftlicher Befürworter der Energiewende. Auch Jule vertrat die Auffassung, dass die Zukunft der Menschheit von der Umstellung auf erneuerbare Energien abhing. Aber alles mit Augenmaß.

Fuhr man von Berlin Richtung Unterleuten, überquerte man auf dem letzten Streckenabschnitt die Plausitzer Platte, eine in der letzten Eiszeit entstandene Hochfläche, auf der links und rechts der Straße rund 180 Windkraftanlagen standen. Bei Tag verbreitete die träge Bewegung der Rotoren einen schwer beschreibbaren Weltschmerz. Bei Nacht erzeugte das rhythmische, aber niemals synchrone Blinken der Warnleuchten hypnotische Zustände.

Jule hatte ihren Laptop geholt und zu googeln begonnen, während Gerhard ihr über die Schulter sah. Der Albtraum auf der Plausitzer Platte hatte auch nur mit acht Windrädern begonnen; in Unterleuten waren zehn geplant. Unter Jules flinken Fingern kam die Wahrheit nach und nach ans Licht. Windkraftanlagen zerstörten nicht nur die Landschaft, töteten Vögel und beeinträchtigten die Gesundheit der Anwohner. Sie waren auch unwirtschaftlich und ergaben in ökologischer Hinsicht überhaupt keinen Sinn. Da sich Strom nicht effizient speichern ließ, führte die Unzuverlässigkeit des Windes zu einer miserablen Energiebilanz. Außerdem war der CO2-Ausstoß bei Herstellung der Anlagen enorm. Offensichtlich dienten die Propeller weniger dem Erzeugen von umweltfreundlicher Energie als dem Abgreifen von Steuergeldern.