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Sophies Weinen im Wohnzimmer steigerte sich von Unzufriedenheit über Wut bis zur schieren Verzweiflung. Gerhard seufzte, gab sich einen Ruck und ging, ein Glas Ginger Ale in jeder Hand, den Flur hinunter. Die angelehnte Tür stieß er mit der Schulter auf. Jule war von der Couch aufgestanden, ging mit Sophie vor dem Fenster auf und ab und machte »sch-sch«, während sie das Baby rhythmisch in den Armen hüpfen ließ, was die Kleine offensichtlich nicht im Geringsten beruhigte. Gerhard zwang sich, mit ruhigen Schritten durch den Raum zu gehen und die Gläser auf dem Couchtisch abzustellen. Dann trat er auf Jule zu.

»Wir sollten sie ins Bettchen legen«, sagte er. »Sie ist total übermüdet.«

»Sie schreit, weil ihre Schleimhäute gereizt sind von den giftigen Dämpfen. Sie reibt sich die Augen! Ihre Nase läuft! Sie ist ganz rot!«

»Das kommt vom Weinen«, sagte er. »Die Luft hier drin ist nicht so schlimm.«

Gerhard trat Jule in den Weg und streckte die Arme aus.

»Gib sie mir mal.«

»Lass.«

»Komm. Ich trage sie ein bisschen.«

»Das mach ich doch schon. Siehst du das nicht? Ich trage sie. Hin und her. Nicht nur jetzt, sondern auch, während du weg bist. Glaubst du, dass du sie besser tragen kannst?«

»Natürlich nicht, Jule.«

»Du gehst in dein Büro, öffnest die Fenster und setzt dich an den Schreibtisch. Oder machst einen schönen Rundgang durchs Naturschutzgebiet. Ich bin den ganzen Tag hier. Mit Sophie. In dieser Sauna. Ich trage sie. Tag und Nacht. Verstehst du?«

»Du lässt dir ja nicht helfen!«

»Ach so! Sophie ist meine Zuständigkeit, und du hilfst von Zeit zu Zeit ein bisschen?«

»Ich formuliere neu: Du lässt mich nichts tun.«

»Du kannst gern etwas tun.«

»Und was?«

»Ruf die Polizei.«

Gerhard schüttelte den Kopf.

»Das haben wir doch schon hinter uns.«

Am zweiten Tag der Befeuerung, als langsam klar wurde, dass es sich nicht um vorübergehende Müllverbrennung, sondern um eine gezielte Aktion handelte, hatte Gerhard seinen Vorgesetzten bei der Naturschutzbehörde in Plausitz angerufen. Der hatte ihn ans Ordnungsamt verwiesen, wo man erklärte, dass man unterbesetzt sei und nicht jederzeit einen Beamten in die Außengebiete schicken könne. Als Nächstes versuchte Gerhard es bei der Polizei, die ihn zurück ans Ordnungsamt verwies. Er wurde wütend, verlangte sofortiges Eingreifen und drohte mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde.

Gegen acht am Abend hatte es plötzlich an der Tür geklingelt. Vor dem Haus parkte ein Streifenwagen, zwei picklige Jungen in Uniform standen auf der Fußmatte. Gerhard blickte zur Grundstücksgrenze. Dort brannte kein Feuer. Nicht der kleinste Funken war zu sehen. Das Problem habe sich wohl bereits gelöst, sagten die Jungen und tippten sich an die Mützen. Gerhard stammelte einen Dank und sah dem abfahrenden Streifenwagen hinterher. Das Fahrzeug war noch nicht außer Sichtweite, als Schaller nebenan mehrere Autoreifen zur Grundstücksgrenze trug. Kurz darauf hantierte er mit einem Benzinkanister.

»Erinnerst du dich an unseren kleinen Katalog mit Unterleutner Verhaltensregeln?«, fragte Gerhard. »Eins: Wenn du auf eine Party mit fünfzig Gästen kommst, gib jedem einzelnen die Hand. Zwei: Wenn dich jemand beleidigt, ist das nett gemeint. Drei: Probleme löst man nicht mit der Polizei.«

»Dann verklag das Tier!«

»Bis wir eine Unterlassungsverfügung kriegen, sind wir halb erstickt. Die Verfügung wird zugestellt, Schaller schmeißt sie weg. Sie verhängen ein Ordnungsgeld, Schaller zahlt nicht. Der Gerichtsvollzieher kommt. Es gibt nichts zu pfänden. Schaller wird …«

»Stopp!«

Jule schrie so laut, dass Sophie vor Schreck verstummte. Mit einem Ausdruck tiefer Verwunderung blickte sie ihre Mutter an und schob drei Finger in den Mund, um daran zu lutschen. Trotz allem musste Gerhard lächeln. Er fasste Jule am Ellenbogen und führte sie zur Couch. Als sie saß, drückte er ihr ein Glas Ginger Ale in die Hand und wartete, bis sie widerwillig mit ihm anstieß. Obwohl die Flüssigkeit eiskalt war, wärmte der Ingwer Mund und Rachen. Gerhard mochte den Effekt.

Eine Weile schwiegen sie, Zeit, die Jule brauchte, um einzusehen, dass er recht hatte. Dörfer wie Unterleuten hatten die DDR überlebt und wussten, wie man sich den Staat vom Leibe hielt. Die Unterleutner lösten Probleme auf ihre Weise. Sie lösten sie unter sich.

Ein leises Schnarchgeräusch unterstrich die Tatsache, dass seit mindestens zwei Minuten kein Kindergeschrei zu hören war. Sophie hing rücklings über Jules Arm, die kleinen Fäuste neben den Wangen geballt, das Gesicht rot und verschwitzt vom Weinen. Eingeschlafen im Zustand äußerster Erschöpfung. Auch Jule war tiefer in die Kissen gerutscht, sie lag mehr auf dem Sofa, als dass sie saß. Gerhard beugte sich über sie, hob ihre Füße auf die Couch, löste das Zopfgummi, so dass sich das rötliche Haar auf den Polstern ausbreiten konnte, und bettete ihren Kopf auf die Armlehne. Aus glasigen Augen sah sie zu ihm herauf.

»Es kann nicht sein, dass wir nichts tun können«, murmelte sie.

Gerhard nickte und strich ihr beruhigend über die Stirn.

»Keine Sorge, Liebes. Wir werden etwas tun.«

Dass die Polizei nicht in Frage kam und Schaller für Gespräche nicht zur Verfügung stand, hieß noch lange nicht, dass es keine Möglichkeit gab, sich zu wehren. Als Soziologe hatte sich Gerhard von Anfang an für die dörflichen Beziehungen interessiert, und drei Jahre waren lang genug, um etwas darüber zu lernen. Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein, gesellschaftspraktisches Paralleluniversum. Geld spielte eine geringere Rolle als die Frage, wer wem einen Gefallen schuldete. Um in diesem System etwas zu bewegen, musste man Teil des Systems werden. Gerhard brauchte Verbündete. Mit anderen Worten: Schuldner. Heute Abend war Dorfversammlung. Ungewöhnlicherweise hatte Bürgermeister Arne auf dem Einladungsschreiben den Gegenstand des Treffens mit keinem Wort erwähnt. 18 Uhr, Märkischer Landmann, das war alles. Das Treffen war sogar auf www.maerkischer-landmann-unterleuten.de angekündigt, allerdings auch ohne nähere Informationen. Gleichgültig, worum es ging – Gerhard würde nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sein Problem zur Sprache zu bringen.