»Weißt du, was?«
Jule schlief schon halb, sie hatte die Augen geschlossen, ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. Gerhard beugte sich über sie, um zu verstehen, was sie sagte.
»Was, mein Schatz?«
»Am besten, du bringst das Tier einfach um.«
2 Franzen
Früh um sieben fiel das Sonnenlicht bereits mit voller Kraft in die Küche. Der Garten stand reglos, als wäre der Wind noch nicht erfunden. Hoch über den Kronen der alten Bäume flitzte eine Armee von Schwalben am blauen Himmel. Es regnete so selten in Unterleuten, dass Linda sich manchmal fragte, ob ihr das gute Wetter irgendwann auf die Nerven gehen würde. Die Tage waren trocken, die Nächte sternenklar. Selbst im Juli, wenn die Nächte einen hellen Rand besaßen, war es völlig normal, die Milchstraße zu sehen.
Linda stand an der wackligen Spüle und löffelte Kaffeepulver in eine große Tasse. Auf einem Hocker summte der Wasserkocher. Die Kücheneinrichtung hatten Frederik und sie in Kategorie C eingestuft. A bedeutete »dringend anschaffen«. B hieß »möglichst in diesem, spätestens im nächsten Jahr«. C-Sachen gehörten in eine Zukunft, die in abstrakter Ferne lag. Momentan gab es eine Mikrowelle, zwei Camping-Kochplatten und einen funktionierenden Kühlschrank mit Gefrierfach. Weder Linda noch Frederik waren jemals begabte Köche gewesen. Ihr Überleben verdankten sie Bofrost.
Lindas Unterarm zitterte, als sie den Wasserkocher anhob, um den Kaffee in der Tasse aufzugießen. Wie jeden Morgen steckte ihr Körper in einem Korsett aus Muskelkater, das die kleinste Bewegung zu einer Herausforderung machte. Als hätten Putzabschlagen und Fensterschleifen sämtliche Sehnen im Leib verkürzt. Der Schmerz machte ihr nichts aus, im Gegenteil begrüßte sie ihn als Beweis dafür, dass sie das Richtige tat, und zwar mit vollem Einsatz. Außerdem war er ein Ansporn, denn er verschwand, sobald sie sich wieder an die Arbeit machte.
Die erste halbe Stunde des Tages verbrachte sie damit, ihren Kaffee zu trinken und auf den Postboten zu warten. Weil Unterleuten die erste Station auf seiner Rundreise über die Dörfer darstellte, erschien er regelmäßig um halb acht an der Tür. Meistens hatte er ein Paket für Linda dabei, für das er eine Unterschrift brauchte. Amazon schickte große Pappkartons voller Handtücher, Farbdosen, Blumentöpfe oder Schleifpapier, einen in Popcorn verpackten Staubsauger oder eine elend schwere Lieferung Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen. Das nächste Einkaufszentrum mit Drogerie und Baumarkt lag vierzig Autominuten entfernt.
Der Postbote war nicht älter als dreißig und trug eine Irokesenfrisur. Während Linda im Türrahmen lehnte und darauf wartete, dass er ihren Namen in den kleinen Computer tippte, warf er verstohlene Blicke auf ihre nackten Beine und das karierte Hemd, das sie mit über der Brust verschränkten Armen zusammenhielt.
»Ausgeschlafen?«, fragte er jedes Mal, wenn er ihr das Display entgegenhielt, und Linda sagte »ja«, weil sie es grundsätzlich mochte, Fragen mit Ja zu beantworten.
»Heute spür ich wieder die Bandscheiben«, sagte er zum Abschied und fügte, schon im Gehen, hinzu: »Aber irgendwas ist ja immer.«
Weil Frederik es hasste, um diese Uhrzeit geweckt zu werden, hatte Linda sich angewöhnt, das Knirschen der Reifen auf dem Schotter der Einfahrt abzuwarten und an der Tür zu sein, bevor der Postbote klingeln konnte.
Sie goss etwas Milch in den Kaffee, blies auf die Oberfläche, damit sich die Schwebeteilchen schneller senkten, und trug die Tasse ins Wohnzimmer, in dem sich außer einer Couch aus grünem Samt und einem alten Schaukelpferd keine Möbel befanden. Schräg fiel die Morgensonne durch vier hohe Fenster. Die alten Dielen glänzten wie vollgesogen mit Licht. Unter der Dachtraufe nisteten Spatzen. Um aus ihren Nestern zu kommen, ließen sie sich wie Steine vor den Fenstern herabfallen, bevor sie die Flügel ausbreiteten und sich in die Luft schwangen. In der halben Stunde, bevor der Postbote kam, saß Linda einfach nur da und dachte nach, bevor sich der Tag in einen Rausch aus Aktivitäten verwandelte. Auch Manfred Gortz, dessen Schriften sie ihr geistiges Fitnessprogramm entnahm, empfahl gezielte Ruhepausen. Wer sich zwischendurch auf die wichtigen Dinge besann, konnte den Rest des Tags frei von Zweifeln verbringen.
Drei Jahre war es nun her, dass Frederiks Bruder Timo den Sitz seiner Firma nach Berlin verlegt hatte. Frederik hatte nicht darauf gebrannt, das beschauliche Oldenburg zu verlassen, aber der Job bei Timo ließ ihm keine Wahl. Diese Entwicklung hatte Linda in ein Dilemma gestürzt. Dass eine Distanzbeziehung an ihrem ungeduldigen Pragmatismus scheitern würde, war ihr sofort klar gewesen. Fehlte ihr etwas, suchte sie Ersatz. Und sie wollte Frederik nicht ersetzen, ausgerechnet in dem Moment, da sie Spaß daran fand, mit ihm zusammenzuleben. Ihm nach Berlin zu folgen bedeutete aber, ihren wichtigsten Besitz in Oldenburg zurückzulassen. Der Schatz hieß Bergamotte, war ein vierjähriger Hengst und für Linda gewissermaßen der Sinn des Lebens. Gleich zu Beginn ihrer Ausbildung zur Pferdewirtin hatte sie miterlebt, wie das Hengstfohlen zum Ärger seines Züchters mit krummen Vorderbeinen zur Welt kam und eingeschläfert werden sollte. Sie bettelte um Bergamottes Leben, bis der Züchter ihr das Eigentum an dem Fohlen überließ; die Kosten für Futter und Unterbringung zog man ihr vom mageren Lehrlingsgehalt ab. Tagsüber schuftete Linda auf dem Gestüt, die Nächte verbrachte sie im Stutenstall. Alle drei Stunden hob sie Bergamotte, der nicht aufstehen konnte, aus dem Stroh und hielt ihn zum Trinken unter das Euter seiner Mutter. Acht Wochen und unzählige Streckverbände später stand er zum ersten Mal zitternd auf seinen stark gespreizten Beinen. Mit einem Jahr gewann er eine Prämierung auf der Oldenburger Fohlenschau. Wenn Frederik scherzhaft davon sprach, dass er wohl lernen müsse, im Schatten eines Pferds zu leben, widersprach Linda nicht.
Die Reitställe in Berliner Stadtnähe stellten für einen künftigen Zuchthengst keine angemessene Umgebung dar. Unter einer Bedingung hatte sich Linda bereit erklärt, in die Hauptstadt zu ziehen und Bergamotte auf dem Oldenburger Gestüt zurückzulassen: Sie würden so bald wie möglich eine Gelegenheit finden, das Pferd nachzuholen, und Frederik würde sie dabei unterstützen.
Da Linda in Berlin nicht auf Anhieb einen Job als Bereiterin fand, bekämpfte sie Langeweile und die Sehnsucht nach Bergamotte mit einer Geschäftsidee. Wie sich herausstellte, gab es im Berliner Raum massenhaft Problempferde, besser gesagt, Problempferdebesitzer, die keine Ahnung hatten, wie sie mit ihren vor Verwirrung schon halb gestörten Vierbeinern umgehen sollten. Kurzerhand druckte Linda Visitenkarten, auf denen sie sich »Equidentrainerin« nannte, ließ eine Homepage erstellen, fuhr die Reitställe der Umgebung ab und heftete Flyer an Schwarze Bretter. Den Rest erledigte die Mund-zu-Mund-Propaganda. Der Kundenstamm wuchs rasant, und binnen kürzester Zeit war aus der Idee eine Vollzeitbeschäftigung und aus Linda eine Pferdeflüsterin geworden.
Wenn sie abends allein in der Berliner Wohnung saß, weil sie in der Stadt keine Freunde hatte und Frederik noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war, surfte sie auf Immobilienseiten, wo sie nach alten Häusern und verlassenen Höfen Ausschau hielt. Manchmal schickte sie Frederik eine besonders interessante Anzeige, und dann sendete er einen Smiley zurück, der heftig nickte und grinste.
An einem Wochenende überraschte er sie mit Ausflugsplänen, hatte den Picknickkorb gepackt und verriet nicht, wohin sie fahren würden. Unterwegs sahen sie Hasen, Füchse und Rehe auf den Feldern. Das Haus erkannte Linda sofort. Das war Nummer 108, eins ihrer Lieblingsobjekte auf ImmobilienScout24. Hölzerner Wintergarten, Stuck über den Fenstern, dazu ein seltsam geformtes Dach. Verwilderter Garten, alte Bäume. Ein Haus wie aus dem Märchen, verwunschen und fast ein bisschen bedrohlich.