Nachdem sie das Gebäude umrundet hatten, verlangte Linda, auf Frederiks Schultern gehoben zu werden, um durch die hoch gelegenen Fenster zu sehen. Sie hielt sich an der Hauswand fest, während er sich mühsam aufrichtete. Frederik war groß, aber das Gegenteil eines Sportlers. Gemeinsam mit Timo hatte er Kindheit und Jugend vor dem Computer verbracht.
Sie hatte beide Hände gegen die schmutzige Fensterscheibe gelegt und in jenen Raum geblickt, in dem sie jetzt mit ihrer Kaffeetasse saß. Während sie daran dachte, erwartete sie beinahe, ihr eigenes Gesicht am Fenster auftauchen zu sehen, wie es zwischen gewölbten Händen hereinspähte. Komischerweise war das keine unangenehme Vorstellung.
Damals hatte der Raum wie ein Gemälde gewirkt. Einsam hatte die grüne Couch auf der weiten Dielenfläche gestanden, als wartete sie seit Jahren auf die Rückkehr ihrer Besitzer. Das Schaukelpferd hatte Linda erst auf den zweiten Blick entdeckt. Es befand sich mehrere Meter entfernt in der anderen Zimmerecke. Der weiße Stoff, der seinen Körper überzog, war fadenscheinig und vergilbt, der rote Sattel zerschlissen. Aber die bernsteinfarbenen Glasaugen leuchteten wie bei einem lebendigen Tier.
Über die Entdeckung des Schaukelpferds war Linda schier außer sich geraten. Sie sprang von Frederiks Schultern und wies ihn an, einen Klimmzug am Sims zu machen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Ein Pferd, verstehst du! Das ist ein Zeichen.
Mit einem Mal stand alles fest, und Linda begriff, dass das Leben wichtige Entscheidungen ohne Rücksprache traf. Man wurde nicht gefragt. Die Freiheit des Menschen bestand in der Möglichkeit, sich zu widersetzen, um auf diese Weise wenigstens für das eigene Unglück verantwortlich zu sein. Aber Linda zog es vor, dem Schicksal zu gehorchen und glücklich zu werden. Was sie soeben durchs Fenster gesehen hatte, war ihr Schaukelpferd in ihrem Wohnzimmer in ihrem Haus. Sie musste nur noch Frederik überzeugen, ein mittelgroßes Vermögen für die Sanierung auszugeben.
Nach dem Blick durchs Fenster hatten sie noch einen Spaziergang über das Grundstück unternommen. Es gab einige Nebengebäude, die sie ausgiebig besichtigten. Getreidespeicher, Hühner- und Schweinestall, Geräteschuppen. Sie freuten sich über verrostete Eggen, Futterkrippen, Teile eines ausgeschlachteten DDR-Traktors. Linda redete ununterbrochen. Den Getreidespeicher konnte man ausbauen, hier die Box von Bergamotte, da die Sattelkammer, dort der Laufstall für die Fohlen. Dahinten der Stutentrakt. Hinter der Gartengrenze einfach nur Land, Land, Land bis zum Horizont. Vielleicht gehörte ein Teil schon dazu, wenn nicht, konnte man es kaufen oder pachten. Frederik behauptete, die majestätischen Bäume zu mögen, die respektvoll Abstand zueinander hielten. Eiche, Buche, Birke, Robinie, Ahorn. Linda stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, weil sie wusste, dass er sich nicht im Entferntesten für Bäume interessierte. Frederik hasste die Natur, solange sie sich nicht in sanften Farben auf dem Bildschirmhintergrund seines Computers befand.
In den folgenden Wochen telefonierte Linda mit ihren Eltern, Großeltern sowie verschiedenen Tanten und Onkeln und holte sich eine Abfuhr nach der anderen für ihr angeblich völlig versponnenes Projekt. Nach weiteren Anrufen bei sieben verschiedenen Banken stand der Finanzierungsplan auch ohne Eigenkapital. Trotz Finanzkrise und historisch niedrigem Zinsniveau langte die Bank bei den Zinsen ordentlich zu. An ihrem Abenteuer würden Frederik und Linda dreißig Jahre zu tragen haben.
Natürlich hätte Frederik seinen kleinen Bruder fragen können. Timo hätte sie in seine atemberaubend große, atemberaubend unordentliche Wohnung gebeten, ein paar Flaschen Club-Mate serviert und beim Zuhören die Stirn gerunzelt, nicht aus Ärger, sondern weil das bei ihm einen Ausdruck höchster Konzentration darstellte. Hin und wieder hätte er genickt und »Das ist ja schön« oder »Kann ich gut verstehen« gesagt. Am Ende hätte er, anders als Lindas Familie, nicht gefragt, ob sie verrückt geworden sei. Er hätte es nicht als größte Schnapsidee des Jahrhunderts bezeichnet, eine Bruchbude im Niemandsland zu erwerben. Stattdessen hätte er gesagt, wie sehr er sich freue, dass sie einen Ort gefunden hatten, der ihnen gefiel. Dann hätte er wissen wollen, was die Sache kosten sollte.
Linda wusste, dass er ihnen das Geld gegeben hätte. Anstandslos und aufgerundet. Damit sie sich besser fühlten, hätte er von seinen Anwälten einen Kreditvertrag aufsetzen lassen, in dem ein symbolischer Zinssatz notiert war. Ob er die Summe wiederbekam oder nicht, wäre ihm völlig gleichgültig gewesen. Es wäre niemals zu Verstimmungen gekommen; niemals hätte er ihnen Vorhaltungen gemacht, Ansprüche erhoben oder die Leihgabe auch nur erwähnt. Die meisten Menschen besaßen komplizierte Persönlichkeiten; Timo war einfach nur nett. Außerdem verfügte er über haufenweise Geld, das ihm peinlich war. Er liebte Frederik, und Frederik liebte ihn. Ihr Leben lang hatten sie sich kaum gestritten. Trotzdem hätte es Frederiks Selbstwertgefühl endgültig in Schutt und Asche gelegt, seinen jüngeren Bruder um Hilfe zu bitten.
Frederik war neunzehn gewesen und hatte sich fürstlich in seinem Informatikstudium an der Uni Oldenburg gelangweilt, als Timo und sein bester Freund Ronny, beide gerade siebzehn geworden, eines Tages zu ihm kamen. Sie hatten die Idee zu einem Browserspiel entwickelt und wollten eine Firma gründen, um das Spiel selbst zu vertreiben. Frederik hörte lange zu, sah sich die selbstgebastelte Demo-Version an, äußerte ein paar spontane Vorschläge zur Ausgestaltung. Die Idee fand er nicht schlecht. In all den Jahren der autodidaktischen Streifzüge durch die Welt des Programmierens war ihm Timo stets dicht auf den Fersen geblieben, und Frederik musste zugeben, dass sein jüngerer Bruder im Begriff stand, ihn zu überholen. Seine Gratulation war ernst gemeint.
»Und bist du dabei?«, fragte Timo.
»Wobei?«, fragte Frederik.
»Bei unserer Firma. Als dritter Gesellschafter.«
Da erklärte Frederik von der Höhe seiner neunzehn Jahre herab, warum es sich bei der anvisierten Firma nur um ein Luftschloss handeln könne. Die großen Konzerne hätten den Markt längst unter sich aufgeteilt. Es sei undenkbar, dass sich ein paar Jugendliche mit ihren Plänen ernsthaft durchsetzen sollten, ganz egal, wie enthusiastisch sie waren. Er schloss seine Ausführungen mit dem verhängnisvollen Satz:
»Am Ende seid ihr halt nur ein paar Kinder, die gerne daddeln.«
Enttäuscht zogen Timo und Ronny davon, holten sich Vollmachten bei ihren Eltern und gründeten eine GmbH, die sie Weirdo nannten, Frederik zu Ehren, denn das war immer sein Spielername gewesen.
Zwei Jahre später landete Weirdo mit »Traktoria« einen weltweiten Erfolg. Als eins der ersten populären Browsergames gewann das Spiel binnen eines Jahres über 13 Millionen Spieler und sprengte sämtliche Statistiken. Kurzzeitig katapultierte Traktoria die Firma unter die erfolgreichsten Browserspiel-Hersteller der Welt, der Umsatz stieg auf 20 Millionen Euro im Jahr. Frederik verließ die Uni ohne Abschluss und nahm eine Stelle als Entwickler bei Weirdo an. Das Gehalt war in Ordnung. Es entsprach exakt dem, was die anderen Entwickler verdienten. Frederik hätte sich lieber ein Bein abgeschnitten, als Almosen von seinem jüngeren Bruder zu akzeptieren. Keine Gehaltserhöhung, keine Firmenanteile und schon gar keinen Kredit, den man in Wahrheit nicht zurückzahlen musste.
Linda respektierte das. Sie hatte ihm nicht einmal vorgeschlagen, mit Timo zu reden. Inzwischen war sie sogar stolz darauf, dass sie es alleine schaffen würden, aus eigener Kraft, ohne Timos Hilfe. Noch vor wenigen Monaten hatte sie nicht gewusst, was eine Dampfsperre ist. Heute war sie in der Lage, ein ganzes Dach zu dämmen.