Wenn sie doch einmal schwächelte, wenn sie verzweifelt meinte, dass der Berg von Arbeit immer größer statt kleiner werde, musste sie nur die Augen schließen und an Bergamotte denken, wie er in vorschriftsmäßiger Haltung stand, den Hals aufgewölbt, die Ohren gespitzt, das rechte Hinterbein einen halben Schritt zurückgestellt. Das cremefarbene Fell glänzte wie Lack. Der Gedanke an Bergamotte heilte Muskelkater und Frustration. Linda hatte einen Auftrag, der darin bestand, ein Stück Welt abzuzäunen. Bergamotte brauchte nicht nur einen Platz zum Leben, sondern auch die Möglichkeit, seine Schönheit an möglichst viele Nachkommen weiterzugeben. Überhaupt ging es um das Herstellen von Schönheit, im Haus, im Garten, auf den Weiden. Pferde unter Obstbäumen, Pferde im hohen Gras, Pferde im Licht der untergehenden Sonne. Dieser Traum war Lindas Zukunft, und nur weil er einer Postkartensammlung glich, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht realisieren ließ. Manfred Gortz sagte, das Wichtigste im Leben sei Freiheit, und Freiheit bedeute zu entscheiden, wer man sein wolle. Linda war eine Pferdezüchterin in spe.
Im oberen Stock rauschte die Klospülung, als flösse ein Wasserfall durch die Innereien des Hauses. Frederik war aufgestanden; für seine Verhältnisse ziemlich früh. Das konnte bedeuten, dass die nächtliche Arbeit schlecht gelaufen war oder dass der Hahn der Nachbarn ihn geweckt hatte. Bis er die Treppe herunterkommen würde, blieb genug Zeit, noch einmal Kaffeewasser aufzusetzen und sich im Bad vor dem Spiegel das Haar zum Pferdeschwanz zu binden.
Linda saß schon wieder auf der Couch und hielt eine zweite Tasse Kaffee bereit, als Frederiks schlaksige Gestalt im Türrahmen erschien, gekleidet in Boxershorts und ein ausgeleiertes T-Shirt. Das schulterlange Haar hing ihm ins Gesicht, von der Nase in zwei Hälften geteilt. Er ließ sich auf die Couch fallen und nahm den Kaffee entgegen.
»Wann kommt der Spekulant?«
»Nicht vor Mittag.«
»Dann können wir ja vorher noch das Dach neu decken, ein zweites Bad einbauen und im Garten nach Öl bohren.«
»Fährst du heute nicht in die Firma?«
»Das Meeting wurde gecancelt. Timos Sekretariat hat gerade angerufen.«
»Deshalb bist du schon wach.«
»Und du? Keine Problempferde heute?«
»Alles auf morgen verschoben. Der Spekulant geht vor.«
Linda konnte sehen, wenn Frederik an Sex dachte. Irgendetwas passierte mit seinem Blick. Als schaute er plötzlich direkt in sie hinein.
»Dann gehen wir doch einfach wieder ins Bett«, schlug er vor.
»Du gehst auf den Dachboden und machst weiter mit Entrümpeln, ich kümmere mich um die Fenster.«
Er verdrehte die Augen.
»Oui.«
»Oui quoi?«
»Oui, mon Général.«
Linda musste lachen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, dass sie tatsächlich hier mit ihm saß, mit dem Mann, von dem sie immer behauptet hatte, sie würde sich nicht einmal für ihn interessieren, wenn er der letzte Mensch im Universum wäre. Frederiks Bruder Timo war in Lindas Klasse gegangen, ein netter, aber sterbenslangweiliger Nerd, der mit seinem Computer verheiratet war und mit seinem Nerd-Freund Ronny bei jeder Gelegenheit Technikgespräche führte. Frederik ging in eine höhere Klasse, war genauso computerverrückt und genauso langweilig wie sein jüngerer Bruder, gehörte aber zur Clique eines Jungen namens Marc, dem Linda zu dieser Zeit restlos verfallen war. Sie folgte Marc wie ein Hund, über den Schulhof, zum Sport und auf jede Party. Während Marc im Wohnzimmer irgendeines sturmfreien Einfamilienhauses mit anderen Mädchen tanzte, saß Linda mit Frederik draußen auf der Eingangstreppe, betrachtete den Mond, der wie ein Teller Milchsuppe am Himmel stand, und machte »hm-hm« und »na klar«, wenn Frederik etwas sagte. Trotz seines Computerfimmels sah er vorzeigbar aus. Dies und die Tatsache, dass er älter war, machten es möglich, seine Anwesenheit zu ertragen, obwohl sein Marktwert erheblich unter ihrem lag.
Frederik selbst schien sich über Marktfragen keine Gedanken zu machen. Linda wusste nicht einmal, was er von ihr wollte. Nie unternahm er den Versuch, sie zu küssen. Anscheinend reichte es ihm, gelegentlich auf dem Schulhof mit ihr zu plaudern und ihr zu helfen, wann immer sie Probleme mit ihrem Computer hatte. Er war ein Mensch, der Dinge tat, ohne sie in Frage zu stellen. Auf Partys gehen, auf Treppen sitzen, Linda nach Hause fahren, während sie aus dem Fenster seines Polos kotzte. Computerviren unschädlich machen, braune Socken tragen, Fünfen schreiben und trotzdem das Abitur bestehen.
Als zwei Jahre später auch Linda mit der Schule fertig war, hörte sie von Timo, dass Frederik einen Mitbewohner für seine Studentenwohnung suchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marc einer seiner vielen Freundinnen ein Kind gemacht und war ohne Abschluss von der Schule gegangen. Linda zog bei Frederik ein, und weil es sich anbot, schliefen sie gelegentlich miteinander.
Während Frederik die Uni schwänzte, schuftete Linda auf ihrer Lehrstelle als Bereiterin, kam abends völlig erschlagen nach Hause und erfüllte die Wohnung mit Pferdegestank. Manchmal war er noch wach, wenn sie morgens aufstand, und sie tranken einen Kaffee zusammen. Sie hatte Affären mit einem Hufschmied, einem Tierarzt und einem Reitlehrer. Er traf eine Graphikdesignerin, eine Unternehmensberaterin und eine Friseuse. Es dauerte eine Weile, bis Linda begriff, dass Frederik zu den seltenen Menschen gehörte, die ihr nicht auf die Nerven gingen. Sie lachten viel und stritten nie. Linda begann, neue Merksätze zu formulieren, wenn sie über ihr Verhältnis zu Frederik nachdachte. Verliebtheit verfliegt, Freundschaft bleibt. Wer seine Träume selbst verwirklicht, braucht keinen Prinzen. Überhaupt gab es laut Manfred Gortz nur zwei Kategorien von Dingen auf der Welt – solche, die funktionierten, und den großen Rest. Frederik funktionierte. Eines Tages erfuhr sie, dass auch er einen Merksatz über sie hatte. Er lautete: Ich habe diese Frau vom ersten Augenblick an geliebt. Dass sie ihn dafür auslachte, störte ihn nicht.
»Und wie läuft das nachher ab mit dem Spekulanten?«
»Der Spekulant«, sagte Linda, »trifft auf zwei sympathische junge Menschen an der Schwelle zu einer glücklichen Zukunft. Das erweicht sein Spekulantenherz.«
»Welches Kleid ziehst du an?«
»Arschloch.«
Er gähnte und legte die langen Beine über Lindas Schoß, damit sie ihm die Füße massieren konnte.
»Was ist das eigentlich für einer?«
»Geschäftsmann in Standardausführung. Ich hab ihm von Bergamotte erzählt, und er wollte wissen, wie viel man mit Pferdezucht verdient.«
»Vielleicht steht er nicht auf Pferdemädchen.«
»Dann machst du die Hilf-mir-Kumpel-du-weißt-doch-wie-die-Frauen-sind-Nummer.«
»Oui.«
»Oui quoi?«
»Oui, mon Général.«
Linda lockerte seine Fußgelenke durch rotierende Bewegungen, danach drückte sie jede seiner Zehen sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Vor dem Fenster stritten zwei Spatzen in der Luft, wobei einer mehrfach mit den Flügeln gegen die Scheibe stieß. Linda dachte, dass die Temperaturen heute die Dreißig-Grad-Marke übersteigen würden.
»Nervös?«
Sie zuckte die Achseln.
»Hey.« Frederik setzte sich auf und stupste ihr einen Finger auf die Nase. »Wir kriegen das Land. Versprochen. Schon allein, damit Bergamotte nicht eines Tages zwischen uns im Bett liegt.«
Sie nickte, gab seinen Füßen einen Klaps und erhob sich. Bevor der Spekulant auftauchte, wollte sie unbedingt noch eins der Fenster schaffen, die sie im Obergeschoss ausgebaut und zum Abschleifen in den ehemaligen Schweinestall getragen hatte. Frederik nutzte den frei gewordenen Platz auf der Couch, um sich ganz auszustrecken, und sah träge zu ihr hoch.
»Mir tut der Rücken weh. Ich glaube, ich mache heute mal gar nichts.«
Linda nickte und ermahnte sich, keinen Ärger aufkommen zu lassen. Als sie sich entschieden hatten, das Haus zu kaufen, hatte Frederik unmissverständlich klargestellt, dass er nicht zum Heimwerker mutieren würde. Dafür zahlte er den Löwenanteil der Kreditraten. Sein Job war in der Stadt, seine Freunde im Internet, seine Heimat ein weiß möbliertes Büro mit Hochleistungsrechner, das bislang den einzigen voll eingerichteten Raum des Hauses darstellte. Wenn er Lust verspürte, einen Dachboden zu entrümpeln, konnte er das tun. Wenn nicht, war es sein gutes Recht, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen.