Die Reifen des Postautos erzeugten ein harsches Geräusch im Schotter vor dem Haus. Linda verließ das Wohnzimmer und ging über den Flur. Der frisch gereinigte Fliesenboden war kühl unter den Füßen, jeder Schritt ein kleiner Triumph. Stunde um Stunde hatte sie auf den Knien liegend in diesem Flur verbracht und mit einem Spachtel Klebstoffreste von den Fliesen geschabt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Restaurierung von Objekt 108 bestand darin, die untergegangene DDR von Wänden und Böden zu kratzen. Als Linda und Frederik das Linoleum im Flur herausgerissen hatten, war der alte Kachelboden zum Vorschein gekommen, mit filigranen Rankenmustern verziert, auf die Linda jetzt ihre nackten Füße setzte.
Sie betrat den Wintergarten und sah von dort aus zu, wie der Postbote einen Brief in den Kasten neben dem linken Torpfosten warf. Als er sie entdeckte, schüttelte er den Kopf zum Zeichen, dass heute kein Päckchen gekommen war, stieg wieder ins Auto und fuhr davon.
Der Holzboden des Wintergartens fühlte sich warm an unter den Füßen, wie der Rücken eines Tiers; die Steinstufen der Treppe waren wieder kalt. Linda genoss die kleinen Explosionen unter der Schädeldecke, während sie auf nackten Sohlen über den Schotter der Einfahrt zum Briefkasten ging. Ein einzelner Brief lag darin. Der Umschlag aus Umweltpapier, längliches Format mit Sichtfenster. Nur Behördenangestellte waren in der Lage, ein Blatt Papier so zu falten, dass es in diese Sorte Umschlag passte.
Lindas Laune sank, ein innerer Temperatursturz. Behördenpost verhieß niemals etwas Gutes. Der Staat verschickte keine Briefe, in denen er sich bei seinen Bürgern für gesetzestreues Verhalten, braves Steuerzahlen oder die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen bedankte. Der Staat war wie ein falscher Freund, der sich nur meldete, wenn er etwas wollte. Geld eintreiben, Maßregeln verhängen, Verbote erlassen. Der Anblick des Briefs erzeugte ein flaues Gefühl im Magen, aber Linda war nicht der Typ, der einem Gegner ausweicht. Barfuß auf dem Schotter zerfetzte sie den Umschlag in der Luft und ließ die Teile zu Boden fallen.
In Händen hielt sie ein einzelnes Blatt. Oben prangte ein dilettantisch erstelltes Logo, ein Paar Vogelschwingen, in deren Mitte die Buchstaben »VoSchuWa« zu lesen waren. Darunter eine Webadresse: www.vogelschutzbund-unterleuten.de. Der Rest des Briefkopfs informierte Linda darüber, dass die Vogelschutzwarte Unterleutner Heide eine Außenstelle der Naturschutzbehörde Plausitz darstellte und in einem Ort namens Seelenheil ansässig war.
Sie begann zu lesen. Sie kannte keinen Gerhard Fließ. Sie hatte nichts gegen Vögel, im Gegenteil. Sie fand es toll, dass man die letzten Kampfläufer schützte. Sie wollte nur ein paar Pferdeboxen und eine Weide.
Die Wut stieg vom Magen her die Wirbelsäule hoch, verteilte sich wie heiße Flüssigkeit im ganzen Körper, ließ die Kehle eng und den Mund trocken werden. Der Brief war nicht lang, er bestand im Wesentlichen aus zwei nummerierten Absätzen und einer Unterschrift. Als Linda zu Ende gelesen hatte, spürte sie, wie ihr die Tränen kamen.
Sehr geehrte Frau Franzen,
heute teilen wir Ihnen das Folgende mit:
1.) Der Vogelschutzwarte Unterleutner Heide liegen Hinweise vor, dass Sie beabsichtigen, am Rand der Unterleutner Heide ein Nebengebäude umzunutzen. Die Unterleutner Heide gehört zum europäischen Vogelschutzreservat Unterleuten, in dem sich die letzten Brutstätten der Kampfläufer befinden. Von baulichen Veränderungen in ihrem Sichtfeld können sich die Kampfläufer gestört fühlen. Hiermit teilen wir Ihnen heute schon mit, dass wir das genannte Bauvorhaben beim Bauamt Plausitz zur Anzeige bringen werden.
2.) Weiterhin liegen uns Hinweise vor, dass Sie in der Unterleutner Heide die Errichtung großräumiger Einzäunungen planen. Zaunanlagen im Landschaftsschutzgebiet Unterleutner Heide sind genehmigungspflichtig. Die Unversehrtheit der Landschaft ist zu wahren. Zudem besteht die Gefahr, dass sich Singvögel in oder an den Zaunanlagen tödlich verletzen. Wir bringen auch dieses Vorhaben zur Anzeige und weisen Sie heute schon darauf hin, dass wir der Naturschutzbehörde Plausitz anraten werden, ihre obligatorische Einwilligung im betreffenden Genehmigungsverfahren nicht zu erteilen.
Mit freundlichen Grüßen,
Gerhard Fließ
3 Meiler
Als Mizzie noch verlangt hatte, dass nach drei Stunden am Steuer eine Pause einzulegen sei, pflegte Meiler trotz Hunger, Müdigkeit oder voller Blase so lange aufs Gas zu drücken, bis sie ihr Ziel ohne Unterbrechung erreichten. Seit Mizzie – er hatte noch immer kein Wort dafür, denn sie war weder tot noch krank noch in einen anderen Mann verliebt – seit Mizzie also nicht mehr auf dem Beifahrersitz saß, hielt er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und beachtete die Drei-Stunden-Vorschrift. Konrad Meiler mochte Regeln, solange er sich selbst aussuchen konnte, welche er befolgte.
An einer Raststätte bei Gera trank er Milchkaffee, bei Magdeburg aß er einen Rostbraten mit Rotkohl und Kartoffeln, der gar nicht übel schmeckte. Während er das Fleisch kaute, schaute er durch die Scheibe auf bunte Spielgeräte, an denen die Kinder gestresster Urlauber turnten. Die vielen staubigen Kombis mit Dachboxen und Fahrradträgern auf dem Parkplatz ließen Meilers silbern glänzenden Mercedes Roadster wie einen Fremdkörper wirken. Die Außentemperatur wurde mit 32 Grad angegeben. Ab 30 Grad gönnte er sich mittags ein Weizen.
Als er am Morgen in Ingolstadt aufgebrochen war, hatte er sich vorgenommen, bis Bayreuth zu wissen, was er hier tat. Bei Leipzig hatte er noch keine Ahnung gehabt, und jetzt saß er ohne einen blassen Schimmer in der Nähe von Magdeburg. Dass er im Auto nach Berlin fuhr, um einen Kunden zu treffen, war nichts Besonderes. Er stand lieber im Stau, als in einem überheizten oder unterkühlten ICE auf das Beheben einer Signalstörung zu warten. Aber das Kundengespräch war erst für den kommenden Vormittag angesetzt, und Meiler war nicht der Typ, der einen Tag früher in die Hauptstadt reiste, um ins Theater zu gehen. Das Navigationsgerät nannte als Zielort den Namen eines gottverlassenen Nests in der Prignitz. Dort lebte eine Frau, mit der er eigentlich nichts zu tun haben wollte.
Während der letzten Etappe seiner Fahrt sah Konrad Meiler dabei zu, wie die Landschaft sich selbst abschaffte. Wälder zogen sich zurück, Hügel ebneten sich ein, Flüsse versandeten, Farben bleichten aus. Er hasste Preußen. In Bayern gab es Berge und Täler, Wälder und Felder, Flüsse und Ufer. Der Himmel war der Himmel, und die Erde war die Erde. In Preußen machte der Sand jede Landschaft unmöglich. Der Sand ließ Anhöhen und Senken ineinanderrutschen. Der Sand verwischte die Horizonte. Der Sand entzog dem Himmel das Blau und den Bäumen das Grün. Er ließ Mauern einsinken und schluckte halbe Dörfer. Der Sand machte die Seen trübe und die Menschen blass. Den Rest erledigten gelbes Steppengras und Kiefern.
Als das Navigationssystem ihn anwies, die nächste Ausfahrt zu nehmen und sich Richtung Plausitz zu halten, war er so lange überzeugt, dass er einfach auf der Autobahn bleiben und weiter Richtung Berlin fahren würde, bis seine linke Hand dann doch den Blinker setzte, der linke Fuß die Kupplung trat und die rechte Hand vom fünften in den vierten und dann in den dritten Gang schaltete, um den Mercedes sicher durch die enge Kurve zu bringen. Im Grunde blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte sein Kommen zugesagt, und das Einhalten von Verabredungen gehörte zu den vielen Selbstverständlichkeiten in Meilers Leben.
Erst hatte die Frau ihm gemailt, an seine Firmenadresse, die sich über die Homepage von Result International leicht herausfinden ließ. An der Geschwindigkeit, mit der sie von »Sehr geehrter Herr Meiler« und »Mit freundlichen Grüßen« zu »Hallo Konrad« und »Liebe Grüße« überging, erkannte er, dass sie nicht älter als dreißig sein konnte. Vielleicht war sie vierundzwanzigeinhalb. Philipp, sein jüngster Sohn, war vierundzwanzigeinhalb. Meiler staunte, dass er das überhaupt wusste.