Wieder und wieder hatte sie die Bausteine der Ereignisse neu zusammengesetzt, in der Hoffnung, ein klares Bild zu erhalten.
In den 61 Jahren ihres Lebens und vor allem in den zwei Jahrzehnten seit Püppis Auszug hatte Elena gelernt, dass die wahre Geißel des Menschen Langeweile hieß. Langeweile verdarb den Charakter. Sie weckte die Sehnsucht nach Skandalen und Katastrophen. Friedliche Menschen verwandelten sich in Schandmäuler, die anderen Böses wünschten, nur damit sie etwas zu besprechen hatten. Im Kampf gegen die Langeweile entschied sich, ob man als Teufel oder als Engel durchs Leben ging. Weil Elena dies verstand, hatte sie sich stets verboten, schlecht über Nachbarn zu reden, auch wenn es bedeutete, dass die Leute sie für hochnäsig hielten. Wenn man die Gerüchteküche mied, gab es an Gartenzäunen, Straßenecken oder Doppelkopftischen wenig zu verhandeln. Nie zuvor hatte Elena hinter der Gardine im Fenster gelegen, um wie ein neugieriges Waschweib auf den Beutelweg zu schauen, zumal es dort für gewöhnlich nicht mehr zu sehen gab als ein paar Spatzen, die am Straßenrand ein Staubbad nahmen.
Bis gestern Vormittag. Da hatte sie am Fenster von Gombrowskis Arbeitszimmer Stellung bezogen, ein Kissen unter den Ellenbogen, und überlegt, sich aus der Küche ein Glas Weißwein mit Eiswürfeln zu holen. Auf das Getränk hatte sie nur verzichtet, weil sie nichts verpassen wollte. Sie wusste, dass sie etwas Ungehöriges tat, hatte aber dennoch das Gefühl, ein Recht auf diese Szene zu besitzen.
Vor dem Plausitzer Bahnhof weigerte sich Fidi, das Taxi zu verlassen. Der Hund war noch nie aus Unterleuten herausgekommen. Mithilfe des Taxifahrers zog Elena das schwere Tier aus dem Kofferraum, zahlte mit zwei 50-Euro-Noten und verzichtete auf den Rest. Der Taxifahrer wünschte eine gute Weiterreise.
Selbstverständlich hatte sie sich auf ihrem Aussichtsposten gefragt, ob sie eingreifen müsse. Aber ging sie die Sache wirklich etwas an? Gab es eine moralische Verpflichtung, der Geliebten des eigenen Ehemanns zu helfen?
Spätestens als die Frau vom Vogelschützer auf der Bildfläche erschienen war, hatte sich Elena von jeder Verantwortung befreit gefühlt. Auf der Straße stand jetzt eine Schiedsperson, neutraler als sie selbst, die alle nötigen Entscheidungen treffen konnte. Elena durfte Beobachterin bleiben. Schließlich war sie nur durch puren Zufall auf die Vorgänge aufmerksam geworden. Sie hatte bei offenem Fenster in der Küche gearbeitet und plötzlich das Schreien der Katzen im Nachbarhaus gehört. Wäre sie stattdessen im Vorratskeller zugange gewesen, hätten die Ereignisse ohne ihr Beisein ihren Lauf genommen. Wie kriminell konnte Zuschauen unter diesen Umständen schon sein?
Vor dem Eingang des Plausitzer Bahnhofs verwandelte sich Fidi endgültig in ein großes Häufchen Elend. Ihre Hinterläufe zitterten; sie sträubte sich gegen jeden weiteren Schritt. Als Elena sie anschnauzte, ließ sie sich auf den Bauch fallen und sah unter schrecklich besorgter Stirn zu ihr auf. Widerwillig ging Elena in die Knie und streichelte den Hundekopf, wobei sich die Hautmassen zusammenschoben.
»Na, komm schon, mein Mädchen.«
Ein wenig beruhigt, wenn auch immer noch ängstlich, sprang Fidi auf die Beine und folgte Elena mit unsicheren Schritten in die Bahnhofshalle. Vier weitere 50-Euro-Scheine wechselten den Besitzer. Erstaunt nahm Elena zur Kenntnis, wie teuer Bahnfahren war, und hätte fast gelacht, als sie erfuhr, dass sie für den Hund ein Kinderticket kaufen musste. Der Bahnsteig war von Zigarettenkippen übersät. Fidi kroch unter eine Konstruktion aus Metallstangen und Plastikschalen, die als Sitzgelegenheit diente. Außer Elena warteten nur fünf weitere Personen auf den Zug nach Berlin; der morgendliche Pendlerverkehr war schon lange durch. Immer wieder verglich Elena die Angaben auf ihrem Ticket mit dem Fahrplan hinter Glas sowie der Anzeigetafel über ihrem Kopf und hörte erst damit auf, als sie merkte, wie lächerlich sie sich benahm.
Das einzige Mitleid, das Elena empfunden hatte, während sie im Fenster lag, hatte Hildes Katzen gegolten. Haustiere suchten sich ihr Schicksal nicht aus, sie waren vollständig der Willkür der Menschen unterworfen. Im Gegensatz dazu besaß Hilde einen freien Willen und traf ihre Entscheidungen selbst.
Niemand hatte sie gezwungen, die Geliebte eines verheirateten Mannes zu werden. Niemand hatte sie gezwungen, um des schönen Scheins willen einen anderen zu heiraten, nach dessen Tod ins Nachbarhaus zu ziehen und sich in eine katzenbesessene Einsiedlerin zu verwandeln. Offensichtlich hatte Hilde vor langer Zeit beschlossen, sich nicht dafür zu interessieren, was sie anderen Menschen mit ihrem Verhalten zufügte.
Zu Elenas schrecklichsten Erinnerungen gehörte jener Nachmittag vor mehr als dreißig Jahren, an dem sie gemeinsam mit Gombrowski und der kleinen Püppi den Rohbau ihres neuen, herrschaftlichen Domizils am Beutelweg besichtigt hatte.
Sie hatte ihr künftiges Zuhause bereits vor sich gesehen, die großen Fenster, Terrasse, Gartenteich, gepflegter Rasen und Johannisbeerbüsche auf dem ausgedehnten Grundstück. Sie genoss Gombrowskis Begeisterung, mit der er ihr sämtliche Details des Bauvorhabens beschrieb. »Das wird schon«, sagte er nach jeder neuen Erklärung, und Elena antwortete ein ums andere Maclass="underline" »Wunderschön.« Zurück auf der Straße, bemerkte sie, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls gearbeitet wurde. Aus dem kleinen Würfelhaus der republikflüchtigen Familie Berger trat ein Mann, der eine Schubkarre schob.
»Hat sich jemand Bergers Haus unter den Nagel gerissen?«, fragte Elena verwundert.
Gombrowski räusperte sich kurz.
»Die LPG hat das Häuschen übernommen«, sagte er. »Arbeiterunterkünfte werden immer gebraucht.«
Von diesem Moment an wollte Elena ihr prächtiges neues Anwesen nicht mehr. Sie wusste sofort, wer im Berger-Häuschen einziehen würde, auch wenn es noch zehn Jahre dauern sollte, bis sich ihre Ahnung realisierte. Die Zwischenzeit nutzte sie, um die Grundstücksgrenze mit schnell wachsenden Büschen und Bäumen zu bepflanzen, so dass man heute nur noch vom ersten Stockwerk zu Hilde hinübersehen konnte, und auch das nur von einer bestimmten Stelle aus, nämlich dem seitlichen, nach Norden gehenden Fenster in Gombrowskis Arbeitszimmer.
Die Regionalbahn kam; Fidi stieg gutgläubig ein und wollte sofort wieder raus. Elena hielt die Hündin am Halsband fest und schlang die Leine um eine Haltestange. Als sich der Zug in Bewegung setzte, begann Fidi zu hecheln. Mit weit gegrätschten Läufen stand sie auf unsicher schwankendem Boden, versperrte ein- und aussteigenden Fahrgästen den Weg und war nicht bereit, sich niederzulassen. Nach zwei Stationen gab Elena die Überredungsversuche auf, überließ den angebundenen Hund sich selbst und setzte sich ans andere Ende des Großraumabteils, um nicht mitansehen zu müssen, wie die Speichelpfütze zwischen Fidis Vorderbeinen immer größer wurde.
Vom Arbeitszimmerfenster aus hatte Elena am vergangenen Vormittag beobachtet, wie sich Hildes Überrumpelung in Verzweiflung und die Verzweiflung in Wahnsinn verwandelte. Als einer der Tierfänger zum Haus der Gombrowskis herüberkam und an der Tür klingelte, zog sich Elena ein Stück hinter die Gardine zurück und wartete, bis der Mann glaubte, dass niemand da sei. Im Folgenden sah sie zu, wie die Tierfänger ihre Arbeit ungeachtet der Attacken des bemalten Äffchens fortsetzten.
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass die Frau des Vogelschützers ein Handy zücken würde, um ihren Mann und dessen Kollegen anzurufen. Daraufhin hätte sich der Bürgersteig in Kürze mit empörten Tierfreunden gefüllt, und man hätte dem grausamen Abtransport ein Ende gesetzt. Aber nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil besaß die junge Frau die Stirn, in aller Seelenruhe ein Formular zu unterschreiben, während sie ihr Baby im Tragetuch schaukelte und Hilde von den Tierfängern ins Haus geschleppt wurde.
Elena fragte sich, ob es möglich war, ein Baby so innig an die Brust zu pressen, wenn dahinter ein kaltes Herz schlug. Dann fiel ihr ein, dass die junge Mutter natürlich wusste, was Krönchen zugestoßen war, und dass sie eine Frau wie Hilde, die zu einer solchen Gemeinheit fähig war, aus voller Seele hassen musste.