Hal Clement
Unternehmen Schwerkraft
1
Der Sturm fegte über die Bucht. Er wühlte die Oberfläche so heftig auf, daß kaum noch zu unterscheiden war, wo Flüssigkeit und Atmosphäre i neinander übergingen. Er versuchte Wogen aufzutürmen; unter denen die Bree zerbrochen wäre, und verwandelte sie in harmlose Spritzer, bevor sie zwanzig Zentimeter hoch waren.
Nur die Spritzer erreichten Barlennan, der auf dem Achterfloß der Bree kauerte. Er hatte das Schiff an Land ziehen lassen, sobald er wußte, daß sie hier überwintern würden; aber angesichts dieses Sturmes war ihm doch etwas unbehaglich zumute.
Die Brecher übertrafen alles, was er bisher auf See erlebt hatte, und er fand wenig Trost bei dem Gedanken, daß der Mangel an Gewicht, der ihr Entstehen überhaupt ermöglichte, auch verhindern würde, daß sie größeren Schaden anrichteten.
Barlennan war keineswegs abergläubisch, aber hier am Rand der Welt schien alles möglich zu sein. Selbst die Mannschaft, die sonst nicht leicht zu beeindrucken war, fühlte sich in d ieser Umgebung sichtlich unwohl. Hier sei es nicht geheuer, murmelten sie untereinander – wer könne schon beurteilen, was jenseits des Randes auf sie lauere?
Nach jedem Unfall wurde das Gemurmel lauter, und Unfälle waren nicht gerade selten. Der Kommandant war sich darüber im klaren, daß schließlich jeder, der plötzlich statt fünfhundertfünfzig Pfund nur noch zweieinviertel wog, einen Fehltritt tun konnte; aber offenbar brauchte man ein gewisses Maß an Bildung oder zumindest die Fähigkeit zu logischem Denken, um diese Tatsache berücksichtigen zu können.
Selbst Dondragmer, der es eigentlich besser wissen mußte… Barlennans langer Körper straffte sich, und er hätte fast einen Befehl gebrüllt, bevor er wirklich erfaßte, was auf dem übernächsten Floß vorging. Der Maat wollte offenbar die Spanntaue eines Mastes überprüfen und nützte die extrem niedrige Schwerkraft aus, um sich fast zu voller Länge aufzurichten. Es war noch immer ein phantastischer Anblick, ihn in dieser Stellung auf sechs Hinterbeinen balancieren zu sehen, obwohl die Mannschaft der Bree sich allmählich an derartige Tricks gewöhnt hatte; aber Barlennan ließ sich davon nicht beeindrucken. Wer nur zwei Pfund wog, hielt sich entweder fest oder wurde vom ersten Windstoß über Bord geweht; und niemand konnte sich mit sechs Beinen festhalten. Schon der nächste Windstoß mußte… aber das Brausen hätte jeden Befehl übertönt. Der Kommandant wollte schon zu Dondragmer hinüberkriechen, als er endlich sah, daß der Maat sich mit einigen Leinen am Deck festgebunden hatte und ebenso wie der Mast gesichert war.
Barlennan sank wieder in sich zusammen. Er wußte, weshalb Don dieses waghalsige Kunststück vorführte – er wollte der Mannschaft beweisen, wie harmlos der Sturm im Grunde genommen war.
Barlennan wandte sich ab und sah wieder auf die Bucht hinaus.
Niemand hätte genau angeben können, wo der Strand verlief, denn der Sturm wirbelte Sand und Schaum auf, so daß die Sicht kaum hundert Meter betrug. Sogar die Bree war jetzt nur undeutlich zu erkennen, als große Methantropfen von der Bucht her landeinwärts getrieben wurden und Barlennans Augen trafen. Zumindest schien das Deck unter seinen Füßen weiterhin felsenfest zu sein; das Schiff befand sich hoffentlich nicht in Gefahr, fortgeblasen zu werden. Der Kommandant dachte an die zahlreichen Taue, die zu Ankern und den niedrigen Bäumen am Strand führten. Nein, die Bree lag hier fest – aber sie wäre nicht das erste Schiff gewesen, das am Rand der Welt verschwand… Vielleicht hatte die Mannschaft doch recht, wenn sie dem Flieger gegenüber mißtrauisch war. Schließlich hatte dieses seltsame Wesen ihn, Barlennan, dazu überredet, hier zu überwintern, ohne ihm zu versprechen, für die Sicherheit von Schiff und Mannschaft zu sorgen. Aber wenn der Flieger wirklich die Absicht haben sollte, sie alle zu vernichten, konnte er es auf andere Weise einfacher und gründlicher tun. Falls das riesige Ding, in dem er flog, selbst hier, wo Gewicht nicht viel bedeutete, auf die Bree herabsank, war es mit Schiff und Besatzung zu Ende. Barlennan dachte rasch an etwas anderes; in dieser Beziehung unterschied er sich nicht von anderen Bewohnern des Planeten Mesklin, die es peinlich vermieden, irgendwelche festen Gegenstände über sich zu haben.
Die Besatzung hatte längst unter den Decksplanen Schutz gesucht – selbst der Maat arbeitete nicht weiter, als der Sturm mit ungeahnter Heftigkeit losbrach. Alle waren an Bord; Barlennan hatte die Ausbuchtungen unter der Plane gezählt, solange das ganze Deck sichtbar war. Zur Zeit waren keine Jäger unterwegs, denn die Besatzung wußte ohnehin, wann ein Sturm bevorstand, ohne daß der Flieger sie warnen mußte. In den letzten Tagen war keiner von ihnen mehr als fünf Kilometer vom Schiff entfernt gewesen, und in diesem fast schwerelosen Zustand waren fünf Kilometer keine große Entfernung. Selbstverständlich hatten sie reichliche Vorräte an Bord; Barlennan war kein Narr und gab sich große Mühe, möglichst keinen anzuheuern. Trotzdem war frische Nahrung eine angenehme Abwechslung. Er fragte sich, wie lange dieser Sturm noch dauern würde. Vielleicht konnte der Flieger ihm darüber Auskunft geben. Jedenfalls war das Schiff vorläufig sicher, und Barlennan konnte sich die Zeit am besten dadurch vertreiben, daß er mit dem Fremden sprach. Er betrachtete das Gerät, das ihm der Flieger gegeben hatte, noch immer verständnislos e rstaunt und wurde nie müde, sich von seinen magischen Kräften zu überzeugen.
Das Gerät lag neben ihm unter der Schutzplane.
Es war ein Würfel mit etwa zehn Zentimeter Seitenlänge, in dessen Stirnfläche eine Art Auge eingelassen war. An der gegenüberliegenden Seite befand sich eine kleine Öffnung, in die Barlennan seine Zange steckte. Er wußte aus Erfahrung, daß der Flieger dann irgendwie merkte, daß jemand mit ihm sprechen wollte, aber er wußte auch, daß es zwecklos war, den Mechanismus des Geräts ergründen zu wollen. Das wäre dem Versuch gleichgekommen, ein zehntägiges Kind in Navigation zu unterrichten. Die nötige Intelligenz war vielleicht sogar vorhanden – Barlennan tröstete sich mit diesem Gedanken –, aber die Grundlagen fehlten einfach.
»Barl?« Die Maschine sprach plötzlich und unterbrach seine Gedanken. »Hier ist Charles Lackland.«
»Hier ist Barlennan, Charles.« Der Kommandant sprach die Sprache des Fliegers, die er von Tag zu Tag besser beherrschte.
»Ich freue mich, daß du dich wieder einmal meldest. Haben wir den Sturm richtig vorausgesagt?«
»Er ist pünktlich losgebrochen«, bestätigte der Mesklinit. »Aber ich sehe noch keinen Staub.«
»Der kommt noch. Der Vulkan muß zehn Kubikkilometer Staub ausgespuckt haben, und die Wolke treibt seit Tagen in diese Richtung.«
Barlennan antwortete nicht darauf. Der Vulkan, von dem Charles sprach, lag in einem Gebiet von Mesklin, das seinen Informationen nach gar nicht existieren konnte.
»Ich wollte dich nur fragen, ob du weißt, wie lange der Sturm noch dauert, Charles. Können deine Leute von oben etwas erkennen?«
»Habt ihr schon Schwierigkeiten?« erkundigte der Flieger sich besorgt. »Der Winter fängt doch erst an – ihr müßt noch Tausende von Tagen warten, bis ihr aufbrechen könnt.«
»Das ist mir klar. Unsere Vorräte reichen völlig aus, aber wir möchten gelegentlich auf die Jagd gehen und Frischfleisch an Bord holen. Deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du uns helfen könntest.«
»Natürlich gern, aber ich fürchte, daß wir sehr vorsichtig sein müssen. In diesem Gebiet scheinen fast ständig gewaltige Stürme zu herrschen. Bist du früher schon einmal hier am Äquator gewesen?«
»Wo?«
»Am… nun, am Rand der Welt, wie du mir e rklärt hast.«
»Nein, ich bin noch nie so nahe am Rand gewesen, und ich bezweifle, daß andere weiter vorgedrungen sind. Ich könnte mir vorstellen, daß man immer mehr Gewicht verliert, je weiter man sich auf See hinauswagt – bis man schließlich vom Wind mitgerissen wird.«
»Du irrst dich, falls dir das ein Trost ist«, antwortete der Flieger. »Du würdest allmählich wieder schwerer werden. Im Augenblick bist du genau am Äquator, wo dein Körper am wenigsten wiegt.