Der Sturm erwies sich allerdings als gefährlicher, als sie ursprünglich gedacht hatten. Einer von Barlennans Leuten bekam Hunger, blieb im Windschatten eines Felsens stehen und wollte seine Traglast aufbinden. Ein Luftwirbel erfaßte in diesem Augenblick den geöffneten Behälter, der wie ein Fallschirm wirkte – der Mesklinit wurde bergab gerissen. Seine Kameraden sahen ihm entsetzt nach; sie wußten nur zu gut, daß ein Fall aus zwanzig Zentimeter Höhe in diesen Breiten tödlich war, und der Unglückliche würde unzählige Male aus größerer Höhe abstürzen, bevor er irgendwo liegenblieb. Die Überlebenden klammerten sich noch stärker fest und hüteten sich davor, dem Beispiel des Hungrigen zu folgen.
Die Sonne kreuzte immer wieder ihren Pfad und schien durch den Einschnitt, bis sie ihn zur Hälfte, zu drei Vierteln und schließlich ganz hinter sich gebracht hatten. Der Wind ließ allmählich nach, und als sie lange Zeit später die Stelle erreichten, an der die eigentliche Hochebene begann, war die größte Gefahr vorüber. Barlennan führte seine Gruppe jetzt nach links, bis der Wind so weit abgeflaut war, daß sie unbesorgt anhalten und essen konnten – zum erstenmal seit dreihundert Tagen.
Nach dieser Mahlzeit sah Barlennan sich auf dem Plateau um und stellte fest, daß der Weitermarsch kaum weniger schwierig als der Aufstieg sein würde, denn überall lagen riesige Felsbrocken, die umgangen werden mußten. Unter diesen Umständen war es fast unmöglich, eine bestimmte Richtung einzuhalten, da auch die Sonne nicht als Wegweiser dienen konnte; Barlennan wußte, daß sie sich an den Rand der Klippe würden halten müssen, aber allein der Gedanke an die Höhe der Felswand e rschreckte ihn. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie die Rakete finden sollten, sobald sie ungefähr die richtige Stelle erreicht hatten, aber dieses Problem wollte er den Fliegern überlassen – ihnen würde hoffentlich etwas einfallen.
Nahrung war das nächste Problem. Die mitgebrachten Vorräte würden lange reichen – vermutlich sogar zwölfhundert Kilometer weit bis zu der Stelle oberhalb des ursprünglichen Landeplatzes der Bree; aber s ie mußten irgendwie ergänzt werden, sonst würde die Gruppe verhungern, bevor sie den Rückweg antreten konnte. Barlennan dachte lange darüber nach, fand schließlich eine brauchbare Lösung und rief Dondragmer zu sich, um ihm entsprechende Anweisungen zu erteilen.
Der Maat nahm seine Befehle ausdruckslos entgegen, obwohl er bestimmt enttäuscht war; dann sammelte er seine Wachen, ließ sie ihre Verpflegung an Barlennans Leute abgeben und marschierte mit ihnen bergab, ohne weitere Zeit zu verlieren.
Der Kommandant wandte sich an die Zurückgebliebenen.
»Ab sofort werden unsere Vorräte streng rationiert. Wir brauchen uns nicht zu beeilen, denn das wäre ohnehin zwecklos. Die Bree erreicht den alten Liegeplatz lange vor uns, aber Dondragmer und seine Leute haben einiges zu tun, bevor sie uns helfen können. Achtet sorgfältig auf die beiden Funkgeräte: Wenn sie beschädigt werden, finden wir die Bree nicht wieder – es sei denn, ihr wollt ständig über den Rand der Klippe nach unten s ehen.«
»Sollen wir gleich aufbrechen?« fragte einer der Leute.
»Nein, wir warten hier, bis wir wissen, daß Dondragmer das Schiff erreicht hat. Falls ihm e twas zustößt, müssen wir wahrscheinlich selbst wieder hinunter; deshalb wäre es zwecklos, die Entfernung zu vergrößern, die wir dann zurücklegen müßten.«
Der Maat und seine Gruppe hatten inzwischen den Einschnitt erreicht, seilten sich dort an und begannen vorsichtig den gefährlichen Abstieg. Der Sturm konnte sie nicht mehr mitreißen, da er an den glatten Körpern ohne Traglasten keinen Widerstand fand, aber der Weg bergab war trotzdem mühsam.
Etliche Tage verstrichen, bis sie den Einschnitt hinter sich lassen und im Windschatten über die Geröllhalde absteigen konnten; vier oder fünf Tage später erreichten sie die Bree.
Dondragmer meldete Barlennan seine Ankunft.
Dann wurde das Schiff in den Fluß gezogen – ein mühsames Stück Arbeit, da ein Viertel der Besatzung fehlte. Dondragmer erinnerte sich jedoch an den Flaschenzug, den er mit Lacklands Hilfe gebaut hatte, und setzte das Gerät auch diesmal erfolgreich ein.
Als die Bree flußabwärts trieb, befaßte Dondragmer sich längere Zeit mit dem Flaschenzug. Er hätte selbst einen bauen können, denn die Konstruktion war klar; aber er konnte sich nicht vorstellen, weshalb das Gerät auf diese Weise funktionierte. Die Männer auf Toorey beobachteten ihn amüsiert, aber keiner war so unhöflich, Dondragmer etwa auszulachen – und keiner wäre auf die Idee gekommen, ihm etwas zu erklären, was er selbst zu lösen versuchte. Audi Lackland, der Barlennan ins Herz geschlossen hatte, wußte längst, daß Dondragmer erheblich intelligenter als der Kommandant war, und erwartete fest, daß der Mesklinit das Prinzip des Flaschenzugs enträtselt haben würde, bevor die Reise der Bree zu Ende war; diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht.
Die Position der Rakete ließ sich auf zehn Kilometer genau bestimmen, denn ihre Telemetriesender waren nach dem mißglückten Startversuch mehr als ein Jahr lang in Betrieb gewesen; in dieser Zeit war ihr Standort täglich vermessen worden.
Die Bree und Barlennans Gruppe konnten ebenfalls geortet werden, so daß die Beobachter auf Toorey imstande waren, von ihrer Station aus Anweisungen zu geben, nach denen Barlennan zuerst das Schiff und dann die Rakete finden mußte. Dieses Problem war erheblich leichter zu lösen, sobald Dondragmer den früheren Ankerplatz erreicht und dort ein Lager aufgeschlagen hatte. Nun befand sich ein ortsfester Sender auf Mesklin, und Lackland konnte Barlennan jederzeit Auskunft darüber geben, wie weit er und seine Leute noch zu marschieren hatten.
Der Marsch wurde wieder zu einem Routineunternehmen – von Toorey aus.
17
Für Barlennans Gruppe war er jedoch keineswegs eine Routinesache. Das Hochplateau bestätigte den ersten Eindruck: es war unfruchtbar, steinig, unbelebt und verwirrend. Der Kommandant wußte, daß er sich nicht allzu weit vorn Rand entfernen durfte; geriet er zwischen die hohen Felsen, verlor er rasch jegliche Orientierungsmöglichkeit. Vom Boden aus wirkte die Landschaft eintönig felsig, und Barlennan hatte bisher noch keine markanten Punkte entdeckt, nach denen er sich über größere Entfernungen hinweg richten konnte; deshalb blieb er so dicht wie möglich am Rand der Klippe.
Das Gelände selbst war nicht allzu schwierig, wenn man von den Felsbrocken absah, die umgangen werden mußten. Zwölfhundert Kilometer sind für Menschen eine gewaltige Entfernung, sobald sie zu Fuß zurückgelegt werden sollen, aber für nur vierzig Zentimeter lange Lebewesen, die wie Raupen ›marschierten‹, war die Entfernung noch größer, und die endlosen Umwege verlängerten den Marsch weiter. Unter Berücksichtigung aller U mstände kamen Barlennan und seine Leute verblüffend rasch voran – aber hier gab es eben sehr viel zu berücksichtigen. Der Kommandant machte sich allmählich Sorgen wegen ihrer schwindenden Vorräte. Er hatte ursprünglich mit einem großen Sicherheitsfaktor g erechnet, aber der Marsch dauerte wesentlich länger als erwartet, so daß er die Tagesrationen mehrmals herabsetzen mußte, bis das Existenzminimum fast erreicht war. Barlennan fragte immer wieder bei Lackland an, wie weit sie noch zu marschieren hätten, aber diese Auskünfte trugen keineswegs dazu bei, seine Stimmung zu heben.