Man hätte dein Boot mit Leichtigkeit durchlöchern können — und hätte sich die beträchtliche Mühe gespart, dich mit Essen und Luft zu versorgen.“
„Das habe ich mir auch schon überlegt“, antwortete Marie, diesmal ohne zu zögern. „Als ich diesen Sitzstreik hier inszenierte, wollte ich sie damit in diesem Punkt testen…“ Sie sah, daß ich am Schreiben war und hielt inne, während ich meine Notizen beendete.
„War dieser Test nicht ziemlich riskant?“ fragte ich. „Angenommen, sie hätten den Test nicht bestanden. Hättest du überlebt, um das Ergebnis weiterzugeben?“
„Hm — nein. Zu diesem Zeitpunkt war es mir ziemlich einerlei, was aus mir wurde, aber ich war tatsächlich der Meinung, ich hätte eine Chance, hier herauszukommen und den Weg zurück an die Oberfläche zumindest zu versuchen, damit ich Meldung machen konnte.“
„Marie, von deinem Verstand hatte ich eine zumindest ebenso gute Meinung wie von deinen übrigen Eigenschaften, aber in den vergangenen paar Minuten hast du nur Humbug geredet. Das mußt du doch selbst merken. Bist du zur Mitarbeit bereit, oder muß ich hier noch einsamer agieren, als ich befürchtet hatte? Ich wiederhole, warum hat man dich nicht getötet oder dich verhungern lassen?“
Damit ging ich ein Risiko ein, das war mir klar, aber es lohnte sich. Sie runzelte die Stirn, überwand sich schließlich und sagte nach einiger Überlegung wesentlich ruhiger: „Na schön. Ich traute keinem dieser Saft-Atmer da draußen über den Weg, und ich bin nicht mal sicher, daß ich dir traue — “ wie dankbar war ich für ihr ›nicht mal‹ —, „aber ich muß es riskieren. Hier unten hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ansonsten gab es für mich ja nicht viel zu tun. Ich habe eine Erklärung gefunden, die meiner Meinung nach hieb— und stichfest ist. Damit wäre erklärt, warum man mich am Leben ließ und dir und Bert erlaubte, sozusagen Vereinsmitglieder zu werden. Es deutet alles darauf hin, daß Joey möglicherweise noch am Leben ist. Wenn er noch lebt, kann ich mir aber nicht erklären, warum er mich nicht besucht so wie du und Bert.“
Sie überlegte kurz und fuhr dann fort. „Im Prinzip ist es ganz einfach, aber ein paar zusätzliche Einzelheiten könnte ich gut gebrauchen. Das ist mit ein Grund, warum ich es dir sage.“ Wieder machte sie eine Pause und sah mich eindringlich an, ehe sie fortfuhr.
„Ich bin sicher, daß sie uns brauchen. Sie brauchen etwas, das hier Mangelware ist und das du und Bert und Joey und ich und vielleicht jeder andere von der Oberfläche ihnen verschaffen können.
Das ist die einzig plausible Antwort.“
Ich überlegte. An diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht, obgleich ich nicht bereit war, sie so ohne weiteres als einzig plausible zu akzeptieren.
„Du glaubst also nicht, daß es allein die Freude an ihrer Lebensweise ist — an der Freiheit von Energierationierung, wie sie es vermutlich nennen —, die sie immer wieder neue Rekruten suchen läßt? Dergleichen soll vorkommen.“
„Ich weiß“, gab sie zurück. „Aber in diesem Fall glaube ich nicht daran. Das gab es früher mal, damals als es noch Nationen und politische Parteien gab, bevor man sich über die Notwendigkeit einer Aufsichtsbehörde klar wurde.“
„Wenn du glaubst, daß wir über Politik erhaben sind“, kritzelte ich so hastig, wie mein Griffel erlaubte, „dann bist du weniger helle, als ich dich vom Büro her in Erinnerung habe. Und warum willst du diese Gruppe hier nicht als Nation ansehen. Ich jedenfalls sehe sie als solche.“
„Nation? Du hast wohl einen Kurzschluß zwischen den Ohren. Das ist doch nichts weiter als eine Gruppe ganz gewöhnlicher Energieverschwender. Für eine Nation sind es zu wenige.“
„Weißt du, wie viele es sind?“
„Nein, natürlich nicht. Ich konnte sie ja nicht abzählen. Ein paar hundert, glaube ich.“
„Glaubst du denn, ein paar hundert Menschen könnten eine Anlage wie diese errichten? Oder auch nur einen kleinen Teil davon? Hier unten muß es ein Tunnelsystem von vielen Meilen geben. Ich schwamm fast eine Stunde, bis ich endlich hier herkam, und es war der reinste Irrgarten. Ich kenne ihre Energiequelle und die Energieversorgung nicht, es muß sich aber um eine gewaltige Sache handeln. Alle diese beleuchteten Gänge. Und dann das große Zelt draußen — das hast du sicher gesehen. Wie könnten ein paar hundert Menschen ein solches Projekt schaffen? Oben, an Land, mit unbegrenzter Zeit und den normalen Baumaschinen, sicher. Aber welche der herkömmlichen Maschinen könnte man hier unten einsetzen?“
Marie hatte schon vorhin eine Bemerkung einwerfen wollen, wartete aber ab, bis ich fertig war. Es hätte keinen Sinn, die nächsten Minuten Wort für Wort zu zitieren. Das Gesagte läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sie das beleuchtete Gelände draußen nicht gesehen hatte. Auf ihrer Suche nach Joey war sie wohl einem Arbeits-Boot begegnet, war ihm gefolgt und an einem Eingang gelandet, von dem aus man das Zelt nicht sehen konnte. Offenbar gab es hier jede Menge Eingänge.
Eine Meinung über das beleuchtete Gelände draußen konnte sie nicht äußern, und ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie meinem Bericht nicht recht traute.
Sie war nicht gefangen worden. Sie hatte vielmehr das Fahrzeug bis zum Ei ngang verfolgt, hatte entdecken müssen, daß sie zuwenig Ballast hatte, um die Schicht zwischen den Flüssigkeiten zu durchdringen und war einfach da stehengeblieben und hatte den Verkehr blockiert, bis man sie schließlich mit Ballast belud und sie aus dem Weg schaffte. Frauen sind interessante Geschöpfe mit interessanten Fähigkeiten. Ich war nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte, aber davon ließ ich nichts laut werden.
„Nun gut“, schrieb ich schließlich. „Meine Aufgaben sind nun wie folgt: Ich soll Joey finden oder zumindest verläßliche Nachrichten von ihm bekommen. Ich soll einen überzeugenden Grund dafür finden, warum man uns so eifrig drängt, hier mitzumachen. Ich soll verläßliche Informationen über Größe und Bevölkerungszahl der Anlage herausbekommen und vor allem technische Informationen über ihre Kraftwerke.“
„Richtig“, nickte sie. „Ich verlange gar nicht, daß du das alles schaffst, ohne dich Bert anzuvertrauen, weil es außer meiner Macht steht, eine solche Forderung zu erzwingen. Ich sage bloß, daß ich derung zu erzwingen. Ich sage bloß, daß ich ihm nicht traue.“
„Ich sehe nicht ein, warum nicht. Er hat sich zwar an dieses Hochdrucksystem anpassen lassen, aber das habe ich schließlich auch getan, und mir traust du wohl, wie ich sehe.“
„Erinnere mich nicht daran! Das ist ein Punkt gegen dich. Trotzdem — in deinem Fall hoffe ich, daß es sich um ein Tarnmanöver handelt. Du scheinst dich in der Hoffnung zu wiegen, daß es sich um eine rückgängig zu machende Veränderung handelt, was ich wiederum nicht glaube. Ich konnte es dir ansehen, als ich sagte, der Prozeß wäre unabänderlich. Ich hoffe in deinem Interesse, daß du recht behältst.“
„Warum hätte Bert nicht dasselbe glauben und dasselbe Motiv haben sollen?“
„Warum ist er denn seit einem Jahr hier unten?
Wenn er zurück kann, dann muß er etwas im Schilde führen, weil er noch nicht zurück nach oben ist.
Wenn er aber gar nicht zurück kann, hat er ebenfalls etwas vor, weil er dir sagte, es wäre möglich.
Überleg einmal.“
Ich tat es und mußte entdecken, daß mir darauf keine gute Antwort einfallen wollte. Ich brachte nicht mehr heraus als: „Gut, ich werde mich vorsehen.“ Ich hatte mich bereits umgedreht und war ein Stück weggeschwommen, als sie meinen Namen rief. Verärgert drehte ich mich um und sah ihr Gesicht an die Scheibe gepreßt. Als ich hinsah, fing sie zu sprechen an, um vieles leiser, so daß ich sie kaum hören konnte.
„Du bist ein feiner Kerl! Wenn Joey nicht wäre…“
Sie konnte nicht weitersprechen. Ihr Gesicht verschwand von der Scheibe.
Ich schwamm fort, lauschte meinem eigenen Herzschlag und versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.