Du kannst hier beliebig lange bleiben. Du mußt hier alles gründlich durchlesen. Es ist sehr wichtig, daß du die Sache in ihrer Gesamtheit verstehst. Ich werde dann kommen und dich zum Essen abholen.“
Er legte die Tafel unter einen Stuhl — eigentlich ist das falsch, die Tafel war nämlich dichter als die Flüssigkeit, also kann man sich vorstellen, was damit geschah — und er schwamm davon. Mir blieb also nichts übrig, als mi t der Lektüre zu beginnen.
Nein, Kopien oder Tonbänder dieser Bücher besitze ich nicht. Und ich weiß, daß Bert ein Lüge nbold war. Aber mein Wort darauf, diese vielen Bücher hätte er unmöglich in der Zeit, die er hier unten verbracht hatte, selbst fabrizieren können. Die meisten waren handgeschrieben, manche getippt.
Ich verbrachte an die achtzehn Stunden damit, jene Bücher zu überfliegen, die in den mir bekannten Sprachen abgefaßt waren. Diese achtzehn Stunden wurden natürlich von Mahlzeiten und Schlafpausen unterbrochen, aber die Beschreibung dieser Tatsachen des Lebens würde zu weit führen, obgleich diese Verrichtungen in me iner jetzigen Umgebung ziemlich ungewöhnlich ausfielen. Ich werde nun versuchen in möglichst knapper Form ein Bild der Situation zu entwerfen.
XVIII
Die Anlage hatte tatsächlich schon vor der Schaffung, der Aufsichtsbehörde existiert. Während der letzten Jahrzehnte vor der Rationierung war den verschiedenen, damals existierenden politischen Institutionen langsam klargeworden, daß die Energiereserven der Menschheit im Schwinden begriffen waren. Nun wurden verzweifelte Versuche unternommen, um den Folgen auszuweichen oder sie zumindest hinauszuschieben, ohne der öffentlichen Meinung weh zu tun — oder vielmehr, ohne die Selbstzufriedenheit der Öffentlichkeit zu stören.
Meine historischen Kenntnisse stehen auf wackeligen Beinen, aber ich glaube mich zu erinnern, daß es die Periode des „Blitzprogramms“ war, eines Programms, das damalige Techniker zynisch als einen administrativen Versuch bezeichneten, ein Baby innerhalb eines Monats in die Welt zu setzen, indem man neun Frauen schwängerte. Einige Ergebnisse dieses Programms sind bekannt, beispielsweise der hydroelektrische Tunnel Mittelmeer-Totes Meer, die Dämme von Messina, Key, Ore und Arafura, das thermische Kraftwerk von Valparaiso, die vulkanischen Zapfstellen von Bandung und Akureyr. Manche Anlagen erwiesen sich als lohnend, ja sogar als gewinnbringend, andere blieben Denkmäler unfähiger Politik.
Die weiteren Konsequenzen sind bekannt — Diskussionen um Energienutzung, die zu einem Dutzend kleinerer Kriege führten, die wiederum in einem einzigen Jahr mehr Energie verbrauchten, als alle Blitzprogramm-Einheiten in einem Mensche nleben zusammen erzeugen konnten. Ebenso bekannt ist, daß als Folge davon die Aufsichtsbehörde gebildet und die allgemeine Energiebewirtschaftung eingeführt wurde.
Während der Periode der Reibereien unternahmen einige Nationen den Versuch, geheime Kraftwerke anzulegen in der Hoffnung, entweder der Habgier ihrer Nachbarn zu entgehen oder sich im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung selbst mit Energie versorgen zu können. Meist waren diese „Geheima nlagen“ für die allgemeine Öffentlichkeit der betreffenden Nation nur vor der Inbetriebnahme geheim — wenn es überhaupt so weit kam. Einige bestanden auch noch mehrere Jahre nach Einfü hrung der Rationierung. Allgemein herrschte hernach die Annahme vor, die letzten dieser geheimen Anlagen wären aufgespürt und schon vor Jahrzehnten dem allgemeinen Energienetz eingegliedert worden.
Hier aber stand eine dieser Anlagen!
So einfach war das — beinahe.
Ich konnte den Unterlagen nicht entnehmen, welches Land dafür verantwortlich zeichnete. Ich versuchte es gar nicht erst festzustellen. Der Name des Landes wäre für mich, der ich ein halbes Jahrhundert nach der Abschaffung der Ländernamen geboren worden war, ohnehin bedeutungslos gewesen.
Es hatte sich höchstwahrscheinlich um ein kleineres Land gehandelt, das Befürchtungen gegen seine Nachbarländer hegte, aber immerhin groß genug, um hochindustrialisiert zu sein. Die Technik des Lebens in der Tiefsee, wie sie mir im Augenblick so wirkungsvoll und drastisch vor Augen geführt wurde, war nicht das Produkt halbherziger oder gar „Blitz-Programm“-Forschung. Dazu hatte es einer sehr langen Entwicklungszeit bedurft. Da mir die Gepflogenheiten der damaligen Zeit nicht unbekannt waren, konnte ich mich nicht genug darüber wundern, daß dieses Geheimnis bewahrt worden war — obgleich ich mir die Schritte vorstellen kann, die damals zur Erreichung dieses Ziels normal und angemessen schienen.
Wie dem auch sei, die Anlage wurde errichtet, und sie ging in Betrieb, ehe die Behörde und damit die Rationierung Wirklichkeit wurden.
Wie gesagt, es blieb ein Geheimnis. Es mußte geheim bleiben. Nur eine Handvoll Menschen durfte davon wissen — abgesehen von den Tausenden ständiger Bewohner. Diese Handvoll zog sich ganz einfach klammheimlich von der Erde zurück und brach alle Verbindungen hinter sich ab, als die Rationierung begann und die Energiequellen zum allgemeinen Eigentum erklärt wurden. Ein wenig Skrupellosigkeit mag dazu ja nötig gewesen sein, aber ich glaube lieber, daß das Schlimmste daran die ein wenig unter Zwang vorgenommene Adressenänderung darstellte.
Jedenfalls gab es plötzlich eine neue Nation mit einer Bevölkerung von fünfzehntausend Menschen am Grunde des Pazifiks. Diese Nation verfügte über Fabriken und chemische Anlagen und hatte Energie in Hülle und Fülle. Fünfzehntausend Me nschen. Wie Marie es später auszudrücken beliebte, fünfzehntausend Aristokraten — und über fünfzehn Milliarden Jakobiner.
Realistischer gesehen waren es fünfzehntausend Schnittblumen.
Die meisten Berichte die ich las, brachten zum Ausdruck oder deuteten zumindest an, daß die Unterbrechung der Beziehungen mit der Oberfläche nicht als endgültig angesehen wurde. Für alle Beteiligten muß es nämlich klar gewesen sein, daß eine Bevölkerung dieser Größe viel zu klein war, um eine hochtechnisierte Kultur am Leben zu erhalten und ebenso klar, daß nur eine hochtechnisierte Kultur unter diesen Umständen überleben konnte. Wahrscheinlich hatte man die Absicht, intellektuelle Kontakte mit der übrigen Menschheit zu pflegen — vielleicht sogar physische Kontakte, da es kaum glaublich ist, daß man glaubte, jedes einzelne Stückchen Ausrüstung, das für den Betrieb der Anlage nötig war, selbst zu fertigen.
Aber diese Kontakte wurden nicht aufrechterhalten. Sie konnten nicht aufrechterhalten werden.
Man hätte es vielleicht trotz aller möglichen auftauchenden Schwierigkeiten geschafft, wenn nicht ein jeder dieser Kontakte notwendigerweise ein Betrug sein mußte. Und diese Faktoren zusamme ngenommen ließen die Verbindung nicht wieder aufleben.
Die unerwartet auftretende Schwierigkeit hätte man voraussehen können, wenn die Anlage länger als nur ein paar Jahre vor dem Bruch in Betrieb gewesen wäre. Man hätte Erfahrungen sammeln können, die manchem die Augen geöffnet hätten.
Wie die Dinge nun lagen, sollten die Erfahrungen eben später kommen.
Eine technisch orientierte Kultur ist notwendigerweise eine auf Büchern beruhende Kultur, solange wenigstens, bis man einen Ersatz für die Nachschlagewerke gefunden hat.
Ob sich wohl jemals jemand das Problem vor Augen geführt hat, eine phonetische Sprache wie Russisch oder Englisch jemandem beizubringen, der nie ein gesprochenes Wort gehört hat und selbst keinen Laut hervorbringen kann?
Schön und gut, ich weiß, daß ein besonders ausgebildeter Spezialist es fertig bringen kann. Was aber, wenn unter der gesamten Bevölkerung niemand ein einziges Wort hervorbringt und wenn man unter diesen Umständen der jungen Generation die Lektüre von Farrington Daniels „Mathematische Vorübungen für die physikalische Chemie“