Der Arzt lenkte Berts Aufmerksamkeit auf die Blutleitungen zwischen ihm und der Maschine hin, unternahm jedoch keinen Versuch, ihn vom Schreiben abzuhalten. Bert gab mit einem Nicken zu verstehen, daß er die Warnung verstanden hatte, und setzte den Griffel in Bewegung. Er faßte sich kurz und reichte mir die Tafel.
„Tut mir leid, aber ich kann erkennen, wann ich schachmatt gesetzt bin. Hoffentlich hast du mehr Glück, obwohl ich dir jetzt, da sie weiß, daß Joey am Leben ist, keine großen Chancen einräume. Sag ihr, daß sie mich nicht getötet hat, falls du glaubst, daß diese Möglichkeit ihr Kummer bereitet. Mir ist lieber, wenn ich ihr nicht mehr unter die Augen trete.“
Das waren Sätze, die mir die Augen öffneten.
Plötzlich begriff ich, warum Bert mit der Wahrheit gespielt hatte, warum er Joeys Anwesenheit vor Marie verheimlicht hatte, warum er sich so plötzlich zur Rückkehr an die Oberfläche entschlossen hatte, und warum er mir gegenüber unaufrichtig war — ja sogar, warum der hiesige Rat uns nicht gemeinsam nach oben lassen wollte.
Ich sah auch, daß ich nicht in der Lage war, ihn auch nur in einem Punkt zu kritisieren. Man konnte nicht ein Wort gegen ihn sagen, das nicht ebenso gut auch auf mich zugetroffen hätte. Der einzige Grund, warum ich nicht so gehandelt hatte wie er — und das unter demselben Motiv —, war die Tatsache, daß ich dazu nicht in der Lage war.
Ich konnte ihm weder die Schuld geben noch ihn kritisieren. Ich habe zwar Fehler, bin aber kein Heuchler. Er tat mir nur leid. Wie er eben gesagt hatte, waren seine Chancen vergeben.
Vielleicht würde Marie zu der Einsicht gelangen, daß sie, was Joey betraf, ein hoffnungsloser Fall war, sogar nach der Entdeckung, daß er doch noch am Leben war. Vielleicht würde sie sich dann für mich entschließen. Doch nach den letzten Wochen und den Enthüllungen der letzten Minuten würde sie für Bert nie wieder Verwendung haben.
Ich bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. Mir fiel nichts ein, was ich hätte schreiben können. Er antwortete mit einem verbitterten Grinsen und winkte mir zu, ich solle verschwinden. Ich trollte mich. Mit Ausnahme des Arztes folgten mir die anderen.
XXIV
Aber ich hatte für den Tag noch nicht ausgelernt.
Als ich das große Ventil durchschwamm und von außen sichtbar wurde, hörte ich Maries Stimme. Sie klang scharf, erinnerte im übrigen aber an einen Keulenschlag.
„Wieso konntest du auf die Idee kommen, diese Menschen würden nicht Sauerstoff durch die Lungen inhalieren? Falls ich Bert tötete, tut es mir allzusehr leid, aber es ist deine Schuld.“
Sogar ich hatte genug Zeit gehabt, um vorauszusehen, daß diese Frage ko mmen würde, doch hatte ich zum Ausarbeiten einer guten Antwort keine Möglichkeit gehabt. Während der Arzt nämlich Bert bearbeitet hatte, hatte ich mein Gedächtnis bearbeitet. Mir war klar, daß meine Theorie vom Sauerstoff-Essen im Eimer war, aber eine bessere hatte ich nicht zur Hand.
Mir fiel nichts ein, als meine Theorie und die dafür sprechenden Gründe zu wiederholen. Ich beruhigte Marie auch, daß sie Bert nicht getötet hatte.
Irgendwie machten meine Argumente in geschriebenem Zustand keinen so luftdichten Eindruck wie damals, als ich sie mir zurechtgelegt hatte — ganz abgesehen von der Tatsache, daß ich nun offe nsichtlich auf dem Holzweg war. Trotzdem schien Marie sich zu beruhigen, während ich Seite auf Seite schrieb und sie ihr zu lesen gab. Vielleicht taten die erzwungenen Pausen das Ihre dazu.
„Ich gebe zu, daß du mich beim ersten Mal überzeugt hast“, sagte sie, als ich endlich fertig war,
„und ich sehe selbst nicht, wo die Schwachstelle steckt. Joey, hast du in der hier verbrachten Zeit genügend erfahren, damit du uns sagen kannst, in welchem Punkt wir uns irren?“
„Ich glaube ja“, schrieb er. Er stellte sich so auf, daß Marie gleich während des Schreibens mitlesen konnte. Ich nahm selbst eine Position ein, so daß ich alles mitbekam.
„Euer großer Irrtum war nur natürlich. Richtig ist, daß wir nicht atmen, was die Bewegungen des Brustkastens betrifft. Trotzdem beziehen wir Sauerstoff aus dieser Flüssigkeit. Es ist ein Wunderelixier. Vom Molekularaufbau her ähnelt es annähernd dem Hämoglobin, weil es an der Oberfläche Sauerstoffmoleküle lose binden kann. Ich weiß nicht, wie viele, aber die Zahl ist hoch. Die Flüssigkeit verfügt nicht über die Porphyrin-Gruppen des Hämoglobins. Die gingen verloren, als man den Stoff für sichtbares Licht durchlässig machte. Aus dem Gedächtnis kann ich euch die Aufbauformel nicht ableiten. Aber gesehen habe ich sie. Sie ist durch und durch verständlich.
Und jetzt überlegt einmal. Die Molekularkonze ntration des flüssigen Sauerstoffes ist viertausendmal größer als die des gasförmigen, den wir normalerweise einatmen. Der Grund für unser Atmen ist der, daß wir durch bloße Diffusion durch die Luftröhre zuwenig Sauerstoff bekämen. In flüssigem Sauerstoff kann ma n natürlich wegen der Temperaturprobleme nicht leben. In dieser Flüssigkeit hier aber ist die Konzentration fast freien Sauerstoffes viel viel höher als in der Atmosphäre — viel geringer zwar als in flüssigem Sauerstoff, aber immer noch sehr hoch. Das stellt ein anderes Problem dar.
Man versah den Kern dieses Moleküls mit einer Struktur, die bei Temperaturen über einigen hundert Graden endothermisch zusammenbrechen würde. Daher würde ein Feuer sich selbst ersticken.
Aber das ist ein Nebenproblem, soweit die Atmung betroffen ist.
Wenn die Moleküle dieser Flüssigkeit ihren Sauerstoff in die Lunge abgeben, geben benachbarte Moleküle O2 an diejenigen ab, die es verloren haben. Andere ersetzen diese wieder und so fort. Eine Situation ähnlich der Wasserkette beim Feuerlöschen. Sie wird von denselben Gleichungen erfaßt, die man bei Diffusionsproblemen anwendet. Die Rate des Sauerstofftransportes hängt vom Konzentrationsunterschied zwischen dem Lungeninneren und der Außenseite ab, und von der Fläche der Schranke, durch welche die Diffusion stattfindet — in diesem Fall die kleinste Querschnittfläche der Luftröhre. In diesem Fall reicht die Sauerstoffko nzentration um uns herum aus, um uns durch Diffusion über die Luftröhre am Leben zu erhalten. Was die Kohlendioxyd-Ausscheidung betrifft, bin ich nicht so sicher, aber ich glaube, eure Theorie ist in diesem Punkt richtig. Sie wird bewerkstelligt, indem Kohlendioxyd an unlösliche Karbonate im Körperinneren gebunden und als feste Ausscheidung abgesondert wird. Wie gesagt, das alles kommt mir ein wenig merkwürdig vor, und ich habe das Gelesene vielleicht da und dort mißverstanden. Wenn ich Zeit habe, werde ich tiefer in die Materie einsteigen. Ich bin kein Physiologe, doch hat mich der Stoff fasziniert, besonders die Geschichte dieser Entwicklung.“
„Aber warum diese komplizierten Vorgänge? Eine weniger wirksame Sauerstoffschranke würde es auch tun, solange frischer Nachschub in die Lungen gepumpt wird. Das ist der Grund, warum wir atmen!“ Marie war in diesem Augenblick gewiß nicht auf dem Höhepunkt ihrer Denkfähigkeit, denn sogar ich wußte die Antwort darauf. Ich nahm Joey das Täfelchen ab — er reichte es mir mit der Andeutung eines Lächelns — und begann mit meinen Ausführungen.
„Pumpt man eine noch dichtere Flüssigkeit als Wasser durch die Luftröhre, würde das eine gewaltige Anstrengung und wahrscheinlich gefährlich hohen Lungendruck bedeuten. Ich versuchte es knapp nach der Umwandlung und weiß, daß es schmerzt. Es würde mich nicht wundern, wenn dabei Risse im Lungengewebe aufträten. Es ist eine logische Kette: man fülle Körperhohlräume mit Flüssigkeit, so daß der Außendruck ohne nennenswerte Volumensänderung erreicht werden kann; sodann kann man die Flüssigkeit mit der normalen Atemtätigkeit nicht einpumpen. Man muß ihr eine genügend hohe Konzentration freien Sauerstoffes verpassen, um den nötigen Nachschub durch die Kehle diffundieren zu lassen. Ganz einfach, wenn man es erst mal begreift. Was ist übrigens die wichtigste Sauerstoffquelle, Joey?“