Wassili Iwanowitsch hielt inne.
»Vielleicht wärs besser, sie mit einem heißen Eisen auszubrennen? was meinst du?«
»Das hätten wir früher tun müssen. Jetzt wird es nicht mehr helfen als der Höllenstein; wenn ich den Krankheitsstoff schon aufgenommen habe, gibt es kein Mittel mehr.«
»Wie... kein Mittel mehr?...« stammelte Wassili Iwanowitsch.
»Gewiß! Es sind mehr als vier Stunden, daß ich mich geschnitten habe.«
Wassili Iwanowitsch betupfte die Wunde aufs neue mit Höllenstein.
»Der Distriktsarzt hatte also keinen Höllenstein?«
»Nein.«
»Großer Gott, das ist ja unglaublich, jeder Arzt muß damit versehen sein!«
»Wenn du erst seine Lanzetten gesehen hättest!« versetzte Bazaroff und verließ das Zimmer.
Während des Abends und des folgenden Tages ersann Wassili Iwanowitsch alle möglichen Vorwände, um in das Zimmer seines Sohnes zu kommen; und obgleich er nicht von seiner Wunde mit ihm sprach und sich sogar anstrengte, über gleichgültige Dinge mit ihm zu plaudern, sah er ihn doch so fest an und beobachtete alle seine Bewegungen mit solcher Unruhe, daß Bazaroff die Geduld verlor und ihn gehen hieß. Wassili Iwanowitsch versprach ihm, sich nicht mehr zu ängstigen, um so mehr, als Arina Vlassiewna, der er, wohlverstanden, nichts mitgeteilt hatte, mit Fragen in ihn drang, warum er so unruhig sei und die ganze Nacht kein Auge zugetan habe. Zwei Tage lang blieb er fest, obgleich ihn das Aussehen seines Sohnes, den er heimlich immer beobachtete, keineswegs beruhigte; am dritten Tag aber konnte er sich nicht mehr halten. Man war bei Tisch, und Bazaroff, der mit niedergeschlagenen Augen dasaß, aß nichts.
»Warum ißt du nicht, Eugen,« fragte ihn sein Vater mit scheinbar gleichgültigem Ton. »Die Platte scheint mir sehr gut zubereitet?«
»Ich esse nicht, weil ich kein Verlangen zu essen habe.«
»Du hast keinen Appetit? und der Kopf,« setzte er hinzu, »tut er dir weh?«
»Ja, warum sollte er mir nicht weh tun?«
Arina Vlassiewna wurde aufmerksam.
»Bitte, werde nicht böse, Eugen,« fuhr Wassili Iwanowitsch fort, »du mußt mir erlauben, dir den Puls zu fühlen.«
Bazaroff stand auf.
»Ich kann dir sagen, ohne mir den Puls zu fühlen, daß ich Hitze habe.«
»Hast du auch Frost gehabt?«
»Ja, ich will mich ein wenig legen, schick mir einen Lindenblütentee. Ich muß mich erkältet haben.«
»Deshalb hab ich dich heute nacht husten hören,« versetzte Arina Vlassiewna.
»Ich habe mich erkältet,« wiederholte Bazaroff und ging hinaus.
Arina Vlassiewna schickte sich an, den Tee zu bereiten, und Wassili Iwanowitsch ging in das Nebenzimmer, wo er sich die Haare raufte, ohne einen Laut hören zu lassen.
Bazaroff blieb den ganzen übrigen Tag im Bette und verbrachte die Nacht in einem Zustand dumpfer, ermattender Schlafsucht. Als er gegen ein Uhr morgens mühsam die Augen öffnete, bemerkte er beim Schimmer des Nachtlichts das blasse Gesicht seines Vaters, der an seinem Kopfkissen stand, und bat ihn, zu Bett zu gehen. Der Alte gehorchte, aber kam beinah sofort wieder auf den Zehen hereingeschlichen und fuhr, hinter der halbgeöffneten Türe eines Schrankes versteckt, fort, seinen Sohn zu beobachten. Auch Arina Vlassiewna legte sich nicht, sie kam alle Augenblicke an die Tür des Zimmers, um die Atemzüge Eniuschas zu belauschen und sich zu vergewissern, daß Wassili Iwanowitsch immer auf seinem Posten sei; sie konnte nur den unbeweglichen Rücken ihres vornüber gebeugten Gatten sehen, aber das genügte, um sie ein wenig zu beruhigen. Als es Tag wurde, versuchte Bazaroff aufzustehen; er wurde aber von einem Schwindel erfaßt, dem bald Nasenbluten folgte, und legte sich alsbald wieder nieder. Wassili Iwanowitsch half ihm schweigend. Arina Vlassiewna trat herzu und fragte, wie es ihm gehe. »Ich fühle mich besser,« antwortete er und kehrte sich gegen die Wand. Wassili Iwanowitsch machte seiner Frau mit beiden Händen ein Zeichen, daß sie sich entfernen solle; sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu weinen, und ging hinaus. Das ganze Haus schien wie verdüstert; alle Gesichter wurden lang, eine fremdartige Stille herrschte sogar im Hofe; einen krähenden Hahn, den diese Maßregel eigentümlich verwundern mochte, verbannte man ins Dorf. Bazaroff blieb im Bett, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Wassili Iwanowitsch redete ihn mehrere Male an, aber seine Fragen belästigten den Kranken, weshalb der Alte unbeweglich in seinem Lehnstuhl sitzenblieb und nur von Zeit zu Zeit die Hände rang. Er ging auf einige Augenblicke in den Garten und stand dort wie eine Bildsäule; er schien von einem unsäglichen Staunen erfaßt (der Ausdruck der Überraschung verschwand kaum von seinem Gesicht). Dann kehrte er zu seinem Sohn zurück, wobei er seiner Frau auszuweichen suchte. Dieser gelang es endlich, ihn bei der Hand zu erwischen, und krampfhaft, fast mit drohendem Tone fragte sie ihn: »Was hat er denn?« Um sie zu beruhigen, versuchte Wassili Iwanowitsch zu lächeln, aber zu seiner eigenen Verwunderung entfuhr ein lautes Lachen seinem Munde. Schon am Morgen hatte er nach einem Arzt in die Stadt geschickt; er hielt es für besser, seinen Sohn davon zu benachrichtigen, damit dieser ihm in Gegenwart seines Kollegen keine Vorwürfe mache.
Bazaroff drehte sich auf dem Diwan, wo er lag, plötzlich um, sah seinen Vater starr an und verlangte zu trinken.
Wassili Iwanowitsch gab ihm Wasser und benützte diesen Augenblick, um ihm die Hand auf die Stirne zu legen: sie war brennend heiß.
»Alter,« sagte Bazaroff langsam und mit rauher Stimme, »das nimmt eine böse Wendung. Ich habe das Gift im Leibe, und in wenigen Tagen wirst du mich in die Erde legen.«
Wassili Iwanowitsch schwankte, als ob er einen heftigen Schlag in die Beine bekommen hätte.
»Eugen,« stammelte er, »was sagst du da! Es ist eine einfache Erkältung.«
»Geh doch,« versetzte Bazaroff, »ein Arzt darf so was nicht sagen. Ich habe alle Symptome einer Ansteckung, du weißt es wohl.«
»Symptome... einer Ansteckung?... o nein... Eugen!«
»Was ist denn das?« sagte Bazaroff und zeigte, den Ärmel seines Hemdes zurückstreifend, seinem Vater die unheilverkündenden rötlichen Flecken, welche seine Haut bedeckten.
Wassili Iwanowitsch erbleichte vor Schrecken.
»Gesetzt... wenn auch... das wäre... etwas... wie eine... epidemische Ansteckung.«
»Es ist eine Pyohämie,« sagte sein Sohn.
»Ja... eine epidemische Ansteckung.«
»Eine Pyohämie,« wiederholte Bazaroff bestimmt und in rauhem Ton; »hast du deine Kollegienhefte vergessen?«
»Nun ja, ich gebs zu... ich gebs zu... aber gleichwohl werden wir dich kurieren.«
»Alles Redensarten! laß uns vernünftig reden; ich dachte nicht, so früh zu sterben, das ist ein Unfall, der, ich gestehe es, mir ziemlich unangenehm scheint. Meine Mutter und du, ihr werdet wohl tun, eure Zuflucht zu eurem religiösen Glauben zu nehmen, es ist eine schöne Gelegenheit, ihn auf die Probe zu stellen.« – Er trank einen Schluck Wasser. – »Ich muß dich um etwas bitten, solang mein Kopf noch klar ist. Morgen oder übermorgen wird, wie du schon weißt, mein Gehirn seine Entlassung gegeben haben. Es ist sogar möglich, daß ich mich jetzt schon nicht mehr ganz deutlich ausdrücke. Eben noch glaubte ich mich von roten Hunden verfolgt, und du lauertest auf mich auf dem Anstand, wie man auf einen Birkhahn paßt. Ich komme mir vor wie betrunken. Verstehst du mich recht?«
»Gewiß, Eugen, du sprichst ganz vernünftig, wie gewöhnlich.«
»Um so besser, du hast mir gesagt, daß du nach einem Arzt geschickt hast... ich habe dich nicht abgehalten, dir diese Beruhigung zu verschaffen... verschaff mir deinerseits auch eine, schicke einen Expressen...«
»An Arkad Nikolajewitsch,« fiel der Greis rasch ein.
»Wer ist dieser Arkad Nikolajewitsch?« entgegnete Bazaroff wie in einem Augenblick von Geistesabwesenheit... »ach ja... dieser Zeisig! Nein, laß den in Ruhe, er hat sich jetzt in einen Raben verwandelt. Mach keine so großen Augen, das ist noch nicht das Delirium. Schick einen Expressen an Anna Sergejewna Odinzoff; es ist eine Gutsbesitzerin in der Umgegend. (Wassili machte ein Zeichen mit dem Kopf, daß er sie kenne.) Laß ihr sagen: Eugen Bazaroff grüßt Sie und läßt Ihnen melden, daß er stirbt. Verstehst du mich?«